Minderjährigkeit des nachziehenden Kindes muss im Zeitpunkt der Visumsantragstellung vorliegen:
Beurteilungszeitpunkt für das Alter des nachzugswilligen Kindes eines anerkannten Flüchtlings ist der Zeitpunkt der (förmlichen oder formlosen) Beantragung eines Visums. Die fristwahrende Anzeige (online oder persönlich durch Vorsprache bei der Ausländerbehörde) ist kein Visumsantrag.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
4 Eine wirksame Antragstellung liegt allerdings entgegen der Beschwerde weder in der Abgabe der fristwahrendenden Anzeige über das Online-Portal des Auswärtigen Amtes, noch in der (zusätzlichen) Abgabe der fristwahrenden Anzeige gegenüber der für den Vater des Klägers zuständigen Ausländerbehörde gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Beide Anzeigen dienen lediglich dazu, die Drei-Monats-Frist des § 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG zu wahren, innerhalb derer ein Visumantrag gestellt werden muss, damit ein privilegierter Nachzug unabhängig von dem Nachweis ausreichenden Wohnraums und einer ausreichenden Sicherung des Lebensunterhalts möglich ist. Da der Kläger bis zum Erreichen der Volljährigkeit auch keinen formlosen Visumantrag gestellt hat, kommt es frühestens auf die versuchte Vorsprache im Mai 2019 an, bei der es dem Kläger, der seinem Vorbringen zufolge mit den übrigen Familienmitgliedern einen Termin gebucht hatte, nicht einmal möglich war, einen formlosen Antrag zu stellen. Die näheren Umstände sind hier nicht entscheidungserheblich, weil der Kläger zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr minderjährig war.
5 I. Die von dem Kläger am 16. August 2016 abgegebene fristwahrende Anzeige über das (allgemeine) Online-Portal des Auswärtigen Amtes stellt keinen wirksamen Visumantrag bei der gemäß § 71 Abs. 2 AufenthG insoweit allein zuständigen Auslandsvertretung dar. Dies ergibt sich vor allem aus dem Hinweis, der dem Formular "Fristwahrende Anzeige" beigefügt ist, und den der Kläger mit dem hiervon gefertigten Ausdruck u.a. im gerichtlichen Verfahren vorgelegt hat. Der in englischer und deutscher Sprache verfasste Hinweis lässt sich – ausgehend vom objektiven Empfängerhorizont - nur so verstehen, dass das Auswärtige Amt die Abgabe der fristwahrenden Anzeige nicht als Teil oder ersten Schritt der Antragstellung betrachtet. [...]
7 II. Nichts anderes folgt hier daraus, dass der Vater des Klägers die Anzeige am 18. August 2016 auch gegenüber der für ihn zuständigen Ausländerbehörde abgegeben hat. Bei dem in § 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten "Antrag" des bereits im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen handelt es sich nicht um einen förmlichen Visumantrag, sondern lediglich um eine fristwahrende Anzeige, die die in den Verfahrensvorschriften des Aufenthaltsgesetzes geregelte Zuständigkeit für die Antragstellung im Ausland (§ 71 Abs. 2 AufenthG) und das Erfordernis einer persönlichen Vorsprache durch den Nachzugswilligen nicht berührt. Dies ergibt sich sowohl aus dem Zweck der Regelung als auch aus dem systematischen Zusammenhang (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Januar 2022 - OVG 3 M 22/21 - juris). [...]
10 Da es sich nach alledem bei der fristwahrenden Anzeige im Bundesgebiet nicht um einen förmlichen Visumantrag handelt und ihr bis auf die Fristwahrung keine weiteren Wirkungen zukommen, ist die für den Visumantrag nicht zuständige Ausländerbehörde auch nicht verpflichtet, die Anzeige an die nach § 72 Abs. 2 AufenthG zuständige Auslandsvertretung weiterzuleiten (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 16).
11 Nichts anderes folgt aus Art. 11 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie), wonach die Mitgliedstaaten festlegen, dass der Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder von dem Zusammenführenden oder von den Familienangehörigen gestellt werden muss. § 81 Abs. 1, § 71 Abs. 2 AufenthG verdeutlichen, dass der Gesetzgeber die Erteilung des Visums allein von einem wirksamen Antrag der noch im Ausland befindlichen Familienangehörigen abhängig macht, und dass er das ihm unionsrechtlich zustehende Wahlrecht gerade nicht durch eine zusätzliche formale Antragstellung im Inland mit der Verpflichtung der Ausländerbehörde zur Übermittlung des Antrags an die zuständige Auslandsvertretung erweitern wollte. [...]