VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 19.08.2021 - 31 K 687.17 A - asyl.net: M30358
https://www.asyl.net/rsdb/m30358
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Gambia:

Homosexuellen Männern droht in Gambia (wieder) eine flüchtlingsrechtlich relevante Durchsetzung der Strafvorschriften, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Gambia, homosexuell, Strafbarkeit, LSBTI, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: § 3 AsylG, § 3a AsylG, § 3b AsylG, § 3c AsylG, § 3d AsylG, § 3e AsylG,
Auszüge:

[...]

18 1.1 Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG liegen in der Person des Klägers hinsichtlich seines Herkunftslandes Gambia vor. [...]

26 b. Nach diesen Maßstäben und nach der Erkenntnislage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist das Gericht auf der Grundlage des Sachverhalts, wie er sich insbesondere infolge der Angaben des Klägers im Termin am 19. August 2021 darstellt, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nach Gambia dort wegen einer bei ihm tatsächlich bestehenden homosexuellen Orientierung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine nach § 3 Abs. 1 AsylG relevante Verfolgung zu erwarten hat. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt aus Gambia ausgereist ist und ihm daher die Vermutungsregel aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute kommt. Denn ausgehend von der allgemeinen Auskunftslage, wie sie sich aus den vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt, muss der Kläger als homosexueller Mann gegenwärtig (wieder) fürchten, in Gambia mit staatlicher Strafverfolgung konfrontiert zu werden.

27 aa. Homosexuelle bilden in Gambia eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, 5. Var. AsylG (vgl. unlängst auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Mai 2021 - A 10 K 561/19 -, juris Rn. 31 ff.; VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020 - A 15 K 4788/17 -, juris Rn. 19 ff.). [...]

30 Homosexualität steht in Gambia nach wie vor unter Strafe [...]: Art. 144 des Strafgesetzesbuchs von Gambia sieht für "unnatürliche Straftaten" eine Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren vor. Art. 147 des Strafgesetzbuchs pönalisiert "grob unschickliche Praktiken" zwischen Männern oder Frauen, wobei dies nach der gesetzlichen Regelung ausdrücklich "jedwede homosexuelle Handlung" einschließt (Strafandrohung: fünf Jahre Freiheitsstrafe). Eine im Jahr 2014 noch unter dem früheren gambischen Präsidenten Yahya Jammeh erfolgte und weiterhin geltende Gesetzesverschärfung sieht zudem für Fälle "schwerer Homosexualität" (z.B. homosexuelle Handlungen mit Minderjährigen unter 18 Jahren oder Behinderten; homosexuelle Handlungen durch Schutzbefohlene, drogenabhängige oder HIVinfizierte Personen; homosexuelle "Wiederholungstäter") die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe vor (Art. 144A). Nach der Wahl des amtierenden Präsidenten Adama Barrow im Dezember 2016 ist es bislang nicht zu einer Entkriminalisierung von Homosexualität gekommen. Im Gegenteil, erklärte die gambische Delegation beim UN-Menschenrechtsrat im Dezember 2018 ausdrücklich, die Regierung habe nicht vor, die Gesetzgebung zu revidieren oder zu ändern (vgl. United States Departement of State <USDOS>, The Gambia 2019 Human Rights Report, S. 13). Auch aktuell bleibt eine Entkriminalisierung und Verbesserung der Lebensbedingungen für Homosexuelle und andere LGBTQI-Minderheiten nicht absehbar (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.; emedia.sn, "La dépénalisation de l’homosexualité n’est pas à l’ordre du jour en Gambie", 24. Juni 2020; ilga, a.a.O.; Le monde, Banjul dément vouloir décriminaliser l’homosexualité après und vive polémique en Gambie, 24. Juni 2020; s. ferner auch Amnesty International, The Gambia: Some Welcome Commitments But Progress Needed in Key Areas, 12. März 2020). 31 bb. Männer, die offen homosexuell leben wollen, haben nach der aktuellen Erkenntnislage in Gambia auch (wieder) mit einer flüchtlingsrechtlich relevanten tatsächlichen Durchsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften zur Pönalisierung von Homosexualität zu rechnen. [...]

33 Im Fall Gambias hatte sich ungeachtet des formalen Fortbestandes der Strafandrohung aus der allgemeinen Auskunftslage über längere Zeit der Eindruck vermittelt, dass es schon seit einigen Jahren nicht mehr zu einer Strafverfolgung wegen Homosexualität gekommen war. So berichtetet das Auswärtiges Amt (a.a.O.) noch mit Stand vom Juni 2020, dass die letzten bekannt gewordenen Verhaftungen nach seiner Kenntnis im Jahr 2015 erfolgten; zu Verurteilungen sei es nicht gekommen. In ähnlicher Weise heißt es beim österreichischen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (a.a.O.) - ebenfalls mit Stand vom Juni 2020 - unter Anführung diverser weiterer Quellen, dass seit Amtsantritt der Regierung Barrow keine LGBTQI-Personen mehr strafrechtlich verfolgt oder verurteilt worden seien (vgl. daneben etwa auch schon ABI, a.a.O.; UK Home Office, a.a.O., S. 15 f.). Demgegenüber formuliert das United States Department of State (a.a.O.) in seinem aktuellen Bericht zur Menschenrechtslage in Gambia nunmehr zurückhaltender, dass die Strafgesetzgebung "selten durchgesetzt" werde, und weiß immerhin von einem konkreten Fall - dem Fall des senegalesischen Staatsangehörigen Mustapha Jai - zu berichten, in dem es in den letzten Jahren in Anwendung des Gesetzes zu einer Strafverfolgung gekommen ist (vgl. zu diesem Fall etwa auch The Voice, Court Pushes Trial Of Alleged Gay to November 11, 5. November 2020, und VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 42). In Anbetracht dieses Falls hat jüngst denn auch das Verwaltungsgericht Chemnitz (Urteil vom 11. Mai 2021 - 4 K 623/18.A -, juris Rn. 28) "Anzeichen" dafür gesehen, "dass Homosexuellen in Gambia nunmehr doch wieder eine staatliche Verfolgung und eine strafrechtliche Verurteilung drohen" (insoweit offen gelassen von VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 43, das für den Kreis offen homosexuell lebender Personen im Ergebnis eine Verfolgung aber in einer "Gesamtschau" der in Gambia auch nach dem Machtwechsel 2016/17 für Homosexuelle vorherrschenden Situation bejaht, in die es neben der staatlichen Strafandrohung die staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierungen sowie die drohenden gesellschaftlichen gewalttätigen Übergriffe einbezieht, gegen die dem Gericht zufolge kein ausreichender Schutz zur Verfügung steht; vgl. ebd., Ls. u. Rn. 44 ff.; gegen die Annahme einer asylrechtlich relevanten staatlichen Strafverfolgung Homosexueller nach der Amtsübernahme durch Präsident Barrow etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Mai 2021, a.a.O., Rn. 46 ff. <"keine Fälle"; dort Rn. 49 ff. im Ergebnis aber ebenfalls Bejahung der Verfolgungswahrscheinlichkeit aufgrund der Kumulierung einer Ächtung und Ausgrenzung Homosexueller durch die gambische Mehrheitsbevölkerung verbunden mit Diskriminierung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure>, und Gerichtsbescheid vom 28. Mai 2020 - A 10 K 10734/17 -, juris Rn. 55 ff.; VG Ansbach, Beschluss vom 10. Juni 2020 - AN 4 S 20.2030371 -, juris Rn. 26; VG Freiburg/Breisgau, Urteile vom 28. Juni 2019 - A 1 K 423/17 -, juris Rn. 29 f., und vom 29. März 2018 - A 1 K 4602/126 -, juris Rn. 32 ff., VG Dresden, Urteil vom 8. Oktober 2018 -12 K 4660/17.A -, nachgehend Sächsisches OVG, Beschluss vom 5. Januar 2021 - 6 A 12/19.A -, juris; VG Augsburg, Urteil vom 5. April 2018 - Au 1 K 17.35153 -, juris Rn. 32; abweichend VG Stuttgart, Urteil vom 2. November 2017 - A 1 K 8218/16 -, juris Rn. 29 ff.; zur Situation vor dem Machtwechsel 2016/17: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Oktober 2016 - A 9 S 908/13 -, juris Rn. 41 ff.; s. für die Lage Homosexueller in Gambia im Übrigen nunmehr auch EGMR, Urteil vom 17. November 2020 - 889/19 u.a., B und C gegen die Schweiz -, BeckRS 2020, 30964 <dort Rn. 59 Verneinung der Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Strafverfolgung mangels in den Quellen berichteter Fälle>). Tatsächlich finden sich in den Quellen zwischenzeitlich indes auch noch weitere Berichte aus jüngerer Zeit über Verhaftungen von Homosexuellen in Gambia, die zum Teil auch mit Folter verbunden gewesen sein sollen (vgl. ilga, a.a.O.).

34 Dies zugrunde gelegt, kann aktuell nicht (mehr) angenommen werden, dass die gambischen Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, schlechthin obsolet geworden und gewissermaßen "toter Gesetzesbuchstabe" sind. Vielmehr verbleibt den Strafverfolgungsbehörden offenbar ein Spielraum, um auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften zu agieren, der auch genutzt wird. [...]

36 Die Furcht vor Strafverfolgung, aber auch vor Diskriminierung und Übergriffen, dürfte im Übrigen auch mit dazu beitragen, dass eine hohe Zahl Homosexueller in Gambia von vornherein auf ein öffentliches Leben verzichtet und schon deshalb die Anzahl der sich aus den Erkenntnismitteln ergebenden Referenzfälle - auch gemessen an der Größe der relevanten Vergleichsgruppe, d.h. der vermuteten bzw. statistisch wahrscheinlichen Gesamtzahl Homosexueller im 2,3 Mio. Einwohner-Land Gambia - gering erscheinen mag (vgl. VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 66 ff.; entgegen VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Oktober 2016, a.a.O., Rn. 49 f.). Überdies erscheint jedenfalls eine Überbetonung des quantitativen Ansatzes bei der Ermittlung der Verfolgungswahrscheinlichkeit auch unionsrechtlich bedenklich (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juni 2021 - Rs. C-901/19 -; zum sog. "body count" beim subsidiären Schutz).

37 Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen bedarf keiner Entscheidung, inwiefern Homosexuelle in Gambia auch unabhängig von einer möglichen Strafverfolgung mit staatlichen und gesellschaftlichen Übergriffen sowie Diskriminierung zu rechnen haben, und ob der gambische Staat - soweit es um Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure geht - dagegen wirksamen Schutz zu leisten willens und in der Lage ist (vgl. hierzu näher nur VG Karlsruhe, Urteil vom 12. Mai 2021, a.a.O., Rn. 49 ff.; VG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 19. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 44 ff.). [...]

40 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 7. November 2013, a.a.O., Rn. 65 ff.) und des Bundesverfassungsgerichts (Nichtannahmebeschluss vom 22. Januar 2020 - 2 BvR 1807/19 -, juris Rn. 19) ist anerkannt, dass homosexuellen Schutzsuchenden nicht abverlangt werden kann, ihre Homosexualität in ihrem Herkunftsland geheim zu halten oder besondere Zurückhaltung beim Ausleben ihrer sexuellen Orientierung zu üben, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Im Lichte der Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung kann hier auch nicht angenommen werden, dass der Kläger seine Homosexualität ohnehin allein im Verborgenen halten möchte (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 8. Juli 2020 - 13 A 10174/20 -, juris Rn. 62). Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass es dem Kläger ein inneres Bedürfnis ist, seine Homosexualität auch öffentlich auszuleben, so wie er es eigenen Angaben zufolge sowohl in Italien als auch in Deutschland gehalten hat. [...]