Verfassungswidrige Ausweisung einer straffälligen Person ohne ausreichende Gefahrenprognose:
1. Verlangt die gesetzliche Grundlage der Ausweisung (hier: § 53 Abs. 3 AufenthG) dass das persönliche Verhalten der betroffenen Person gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, so sind nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür zu benennen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen ihrerseits ernsthaft droht und damit von ihr eine bedeutende Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht.
2. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächliche Feststellung des Strafgerichts, dass eine positive Kriminalitätsprognose besteht, nicht gebunden. Den Feststellungen des Strafgerichts kommt jedoch Indizwirkung zu. Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer eigenständigen Begründung.
3. Die nach einer positiven Kriminalitätsprognose über mehrere Jahre stabil gebliebene Lebenssituation nach einer Entlassung auf Bewährung ist zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
15 III. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. [...]
16 1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die gebotene Abwägung zwischen den Ausweisungs- und den grundrechtlich geschützten Bleibeinteressen ist nicht nachvollziehbar, weil die Annahmen der Gerichte zum Vorliegen einer Wiederholungsgefahr angesichts der tatsächlichen Indizwirkung des Prognosegutachtens von November 2017 nicht ausreichen.
17 a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden (vgl. BVerfGE 35, 382 <399>). Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers. Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 AufenthG). Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings – vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 90, 145 <171 f.>; vgl. auch BVerfGE 75, 108 <154 f.>; 80, 137 <153>).
18 b) Die hierfür erforderliche einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegeneinander ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung der fachgerichtlichen Entscheidungen erstreckt sich allerdings darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht (BVerfGK 12, 37 <41>). Verlangt die gesetzliche Grundlage der Ausweisung, wie § 53 Abs. 3 AufenthG, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, so sind Anhaltspunkte dafür zu benennen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutende Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht (vgl. zur Vorgängernorm des § 48 Abs. 1 AuslG: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, Rn. 15). Die Feststellung entsprechender Anhaltspunkte durch die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte muss nachvollziehbar und darf nicht willkürlich sein (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, Rn. 10).
19 Dabei kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat, namentlich die Beteiligung am illegalen Heroinhandel, angesichts der mit einem solchen Verhalten regelmäßig verbundenen erheblichen kriminellen Energie einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen. Es ist von Verfassungs wegen daher grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn in diesen Fällen auch dann, wenn – wie im Fall des § 53 Abs. 3 AufenthG – eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen ausscheidet, die für eine spezialpräventive Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr angenommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, Rn. 15 m.w.N.). Auch schließt eine positive Entscheidung über die Straf(rest)aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, Rn. 36: „tatsächliches Gewicht“ und „wesentliche Bedeutung“). Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung. Solche Gründe können zum Beispiel dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2000 - 2 BvR 2120/99 -, Rn. 16 m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2010 - 2 BvR 130/10 -, Rn. 36; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 -, Rn. 22, 24). Dabei ist der gegenüber der strafgerichtlichen oder strafvollstreckungsrechtlichen Beurteilung regelmäßig späteren Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts Rechnung zu tragen (BVerwGE 121, 297; 121, 315; 130, 20). Demgegenüber ist es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Fachgerichte bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie. Ein allgemeines Erfahrungswissen darf nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (BVerfGK 11, 153 <162>; 12, 37 <41 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 -, Rn. 19).
20 2. Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. [...]
22 Das Oberverwaltungsgericht hat ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der im erstinstanzlichen Urteil (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) angenommenen Wiederholungsgefahr mit der Begründung verneint, es teile die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts bereits auf der vom Landgericht in seiner Strafaussetzungsentscheidung herangezogenen Tatsachengrundlage. [...]
23 Mit dieser Begründung verkennt das Oberverwaltungsgericht seine verfassungsrechtliche Pflicht aus Art. 2 Abs. 1 GG, alle für die Abwägung in Ausweisungssachen wesentlichen Umstände mit ihrem entsprechenden Gewicht in die Abwägung einzustellen. Seine Argumentation vermag – auch wenn man angesichts der Schwere der zu befürchtenden Straftat einen abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab anlegt – die Annahme einer Wiederholungsgefahr nicht zu tragen. [...]
24 Die Gefahrenprognose der Strafvollstreckungskammer beruhte insbesondere auf dem im November 2017 erstellten Prognosegutachten, das dem Beschwerdeführer zum damaligen Zeitpunkt ein geringes Rückfallrisiko attestierte. Dabei stellte das Gutachten positive wie negative Prognosegesichtspunkte einander gegenüber.
25 Zwar ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die gleichen gutachterlichen Feststellungen sowohl eine strafrechtlich positive als auch eine aufenthaltsrechtlich negative Prognose stützen können. Das Oberverwaltungsgericht lässt jedoch eine überzeugende Begründung vermissen, warum im Fall des Beschwerdeführers bei einem aufenthaltsrechtlichen Prognosehorizont und Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine ernsthafte Wiederholungsgefahr besteht. [...]
27 Für die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, dass eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht feststellbar sei, fehlt es insoweit an einer – im Rahmen eines Berufungsverfahrens durchzuführenden – Tatsachenermittlung. Diese hat das Oberverwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass auch ohne die in Zweifel gezogenen Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts die Entscheidung keinen ernsthaften Zweifeln begegne. Damit fehlt eine tatsächliche Grundlage für die Feststellung, dass zum Zeitpunkt des Urteils des Verwaltungsgerichts 2019 und ebenso zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts 2021 eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände oder der Persönlichkeit des Beschwerdeführers nicht feststellbar gewesen sei.
28 Die dadurch unterbliebene Würdigung der in den Jahren 2018 bis 2021 weiterhin stabil gebliebenen persönlichen Lebenssituation begründet ein verfassungsrechtlich relevantes Abwägungsdefizit. [...]