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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 3.21 (Asylmagazin 4/2022, S. 129 f.) - asyl.net: M30332
https://www.asyl.net/rsdb/m30332
Leitsatz:

Berücksichtigung von Hilfe- und Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Organisationen bei der Prognose materieller Lebensverhältnisse im Abschiebungszielstaat:

"Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfeorganisationen sind bei der Prognose zu berücksichtigen, ob international Schutzberechtigte im Mitgliedstaat der Zuerkennung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein werden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren, weil sie unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not leben müssen, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Europäische Union, internationaler Schutz in EU-Staat, Hilfsorganisation, Nichtregierungsorganisation, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Existenzgrundlage,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, EMRK Art. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

17 3.1 Liegen die beschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. - Rn. 88). Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung sind mithin nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen, sondern führen bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung (BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 - Rn. 15).

18 3.2 Die Voraussetzungen dieser Ausnahme liegen nicht vor. [...]

22 3.3 Das Verwaltungsgericht hat bei seiner Bewertung der Lebensverhältnisse, welche die Kläger erwarten, im Einklang mit Unions- und Bundesrecht bei seiner Prognose, dass keine ernsthafte Gefahr einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Situation zu besorgen sei, im rechtlichen Ansatz neben den staatlichen Unterstützungsleistungen und etwaigen Möglichkeiten der Kläger, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, auch eine Sicherung menschenwürdiger Existenz durch - alleinige oder ergänzende - dauerhafte Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen berücksichtigt.

23 3.3.1 Die Berücksichtigung von Unterstützungs- oder Hilfeleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Institutionen oder Organisationen, welche - wie hier nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts - tatsächlich hinreichend geeignet sind, eine Situation extremer materieller Not (Art. 4 GRC) abzuwenden, folgt bereits aus dem Ausnahmecharakter der ungeschriebenen Rückausnahme vom Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens in Fällen drohenden Art. 4 GRC-Verstoßes. Eine ausdrückliche, primär- oder sekundärrechtliche Verpflichtung des ungarischen Staates, den Lebensunterhalt international Schutzberechtigter durch eigene Leistungen (Unterkunft, Befriedigung elementarster Bedürfnisse) unabhängig von zumutbaren, möglichen Eigenbemühungen und den Leistungen Dritter auf einem Niveau oberhalb des durch Art. 4 GRC zu sichern, besteht nicht. [...]

25 Im Bereich des Art. 4 GRC trifft den jeweiligen Mitgliedstaat in Bezug auf die Sicherung von Unterkunft und angemessenen materiellen Bedingungen auch sonst (allenfalls) eine Gewährleistungsverantwortung, bei anderweitiger Sicherstellung nicht eine Erfüllungsverantwortung, soweit es gänzlich von öffentlicher Hilfe abhängige, schutzbedürftige Personen betrifft. Die Wahrung des Existenzminimums im Sinne des Art. 4 GRC ist allein ergebnisbezogen. Art. 4 GRC verbietet dem Grundrechtsverpflichteten in der Abwehrdimension u.a. eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung. In der Leistungs- oder Schutzpflichtendimension kommt eine Verletzung durch den Mitgliedstaat erst dann in Betracht, wenn diesen zur Erfüllung einer entsprechenden Schutzpflicht auch eine (unbedingte) Handlungspflicht trifft. In Bezug auf die materiellen Lebensverhältnisse des Einzelnen ist dies unions- oder konventionsrechtlich grundsätzlich nicht der Fall. Ein staatliches Unterlassen bei unzureichenden materiellen Lebensverhältnissen, die staatlichen oder privaten Akteuren nicht unmittelbar zurechenbar sind, wird erst dann erheblich, wenn den Staat eine besondere Schutz-, Gewährleistungs- oder Einstandspflicht trifft und nur durch staatliches Eingreifen in Form existenzsichernder Leistungen eine (drohende) Verletzung des Art. 4 GRC abgewendet werden kann. Die Gefahr einer anderweitig nicht abwendbaren existentiellen materiellen Notlage für die Einzelnen ist hier eine der staatlichen Schutzpflicht vorgelagerte Voraussetzung, nicht nur Anlass staatlicher Leistungsgewähr. Können extrem schlechte materielle Lebensverhältnisse, welche die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC begründen, durch eigene Handlungen (z.B. den Einsatz der eigenen Arbeitskraft) oder die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen Dritter (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfe- oder Unterstützungsorganisationen) abgewendet werden, besteht schon nicht mehr die ernsthafte Gefahr einer Situation extremer materieller Not, die unter Umständen eine staatliche Schutzpflicht zu (ergänzenden) staatlichen Leistungen auslösen kann. Die Hilfs- oder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen müssen dabei für international Schutzberechtigte auch real bestehen und - ohne unzumutbare, hier nicht festgestellte, geltend gemachte oder ersichtliche unzumutbare Zugangsbedingungen - hinreichend verlässlich und in dem gebotenen Umfang auch dauerhaft in Anspruch genommen werden können; dann ist auch unerheblich, dass auf sie regelmäßig kein durchsetzbarer Rechtsanspruch besteht.

26 Die Berücksichtigung existenzsichernder Unterstützungsleistungen vor Ort tätiger nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen bei der Bewertung, ob bei der Rückführung oder Abschiebung die Gefahr einer Verletzung des Art. 4 GRC droht, folgt auch unmittelbar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 90 und - C-163/17, Jawo - Rn. 92 und Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 39), dass die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats nicht zur Folge haben darf, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Die Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten auch in Bezug auf die Sorge für Schutzsuchende und international Schutzberechtigte wird nicht an fehlende oder unzureichende staatliche Leistungen geknüpft, sondern an die tatsächlich menschenunwürdige Lage der Schutzsuchenden oder -berechtigten. Kann durch die Inanspruchnahme der Hilfs- oder Unterstützungsleistungen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen einer extremen individuellen Notlage hinreichend begegnet werden, droht keine Situation extremer materieller Not. [...]

28 3.3.2 Das Verwaltungsgericht hat daher bei seiner Bewertung, es sei zu erwarten, dass die Kläger aus eigenen Kräften und gegebenenfalls mit Hilfe der in Ungarn tätigen Hilfsorganisationen einer ernsthaften und lebensbedrohenden Armut entgehen könnten, zu Recht auch auf die Hilfen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen abgestellt. [...]

30 3.4 Der Senat erachtet die Rechtsfrage, dass Hilfen nichtstaatlicher Hilfs- oder Unterstützungsorganisationen - und erst recht eine zumutbare eigene Erwerbstätigkeit - bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob den Klägern bei Überstellung/Abschiebung nach Ungarn mit Art. 4 GRC unvereinbare materielle Lebensbedingungen drohen, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs als geklärt, sieht auch sonst keinen Anlass zu Zweifeln und hat daher nach der "acte-clair"-Doktrin keine Veranlassung zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union. [...]