Aufrechterhaltung des Daueraufenthaltsrechts-EU auch durch Kurzaufenthalt im Unionsgebiet für nur wenige Tage:
1. Nach Art. 9 Abs. 1 RL 2003/108/EG verliert eine drittstaatsangehörige Person die Rechtsstellung der langfristigen Aufenthaltsberechtigung, wenn sie sich über zwölf Monate hinweg nicht im Unionsgebiet aufhält.
2. Dies setzt weder die Wohnsitznahme noch den gewöhnlichen Aufenthalt im Unionsgebiet voraus. Vielmehr ist ein Aufenthalt im Unionsgebiet von wenigen Tagen ausreichend, um die Frist zu unterbrechen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
27 Ein langfristig Aufenthaltsberechtigter verliert nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten nicht im Gebiet der Union aufgehalten hat.
28 Da diese Bestimmung keinen Verweis auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten enthält, ist die in ihr enthaltene Wendung "nicht … aufgehalten" als ein autonomer Begriff des Unionsrechts aufzufassen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im gesamten Gebiet der Union einheitlich auszulegen, wobei der Wortlaut dieser Bestimmung sowie der Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, und die Ziele der Regelung, zu der sie gehört, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, X [Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige – Ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte], C-302/18, EU:C:2019:830, Rn. 26).
29 Was als Erstes den Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 betrifft, ist festzustellen, dass in einer großen Zahl von Sprachfassungen dieser Richtlinie in dieser Bestimmung ein der Wendung "nicht … aufgehalten" gleichbedeutender Begriff verwendet wird. Die Wendung "nicht … aufgehalten" bedeutet, wie sie in dieser Bestimmung verwendet wird und entsprechend ihrer üblichen Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch, dass der betreffende langfristig Aufenthaltsberechtigte im Unionsgebiet physisch "nicht anwesend" ist. Somit soll diese Wendung verdeutlichen, dass jede physische Anwesenheit des Betroffenen in diesem Gebiet eine solche Abwesenheit unterbrechen kann.
30 Zwar werden, wie die österreichische Regierung zur Stützung ihrer Auslegung dieser Bestimmung, wonach zu verlangen sei, dass der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen im Unionsgebiet habe, geltend macht, in der deutschen und in der niederländischen Fassung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 anstelle eines Ausdrucks unter Verwendung des Wortes "Abwesenheit" die Verben "aufhalten" bzw. "verblijven" verwendet. Diese Fassungen stellen somit auf den Aufenthalt oder Verbleib im Unionsgebiet ab und könnten daher je nach Zusammenhang eine längerfristige Anwesenheit als nur eine physische Anwesenheit von beliebiger Dauer nahelegen.
31 Diese Nuance schließt jedoch zum einen nicht aus, dass sich diese Ausdrücke auch auf eine bloße physische Nicht-Anwesenheit beziehen können, und zum anderen muss sie jedenfalls relativiert werden, da diese Sprachfassungen von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 im Übrigen auch die Worte "Abwesenheit" bzw. "afwezigheid" verwenden, was dem Begriff "nicht … aufgehalten" entspricht.
32 Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in dem Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 steht, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 der Richtlinie 2003/109 die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten "[v]orbehaltlich des Artikels 9" dieser Richtlinie dauerhaft ist. Da der dauerhafte Charakter dieser Rechtsstellung die Grundregel bildet, ist Art. 9 daher als Ausnahme und demnach eng auszulegen (vgl. entsprechend in Bezug auf Art. 11 Abs. 4 dieser Richtlinie Urteil vom 10. Juni 2021, Land Oberösterreich [Wohnbeihilfe], C-94/20, EU:C:2021:477, Rn. 37). Dieses Erfordernis spricht gegen eine weite Auslegung von Art. 9, nach der die bloße physische Anwesenheit des langfristig Aufenthaltsberechtigten im Unionsgebiet nicht ausreicht, um seine Abwesenheit von diesem Gebiet zu unterbrechen. [...]
35 Die Prüfung des Zusammenhangs, in dem Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 steht, bestätigt somit die Auslegung, die sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt.
36 Was als Drittes und Letztes das mit der Richtlinie 2003/109 verfolgte Ziel betrifft, ergibt sich erstens aus ihren Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12, dass sie darauf abzielt, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, die in den Mitgliedstaaten langfristig und rechtmäßig ansässig sind, und zu diesem Zweck die Rechte dieser Drittstaatsangehörigen an die Rechte anzugleichen, über die die Unionsbürger verfügen, u. a. dadurch, dass die Gleichbehandlung mit den Unionsbürgern in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen herbeigeführt wird (Urteil vom 14. März 2019, Y. Z. u.a. [Täuschung bei der Familienzusammenführung], C-557/17, EU:C:2019:203, Rn. 63). Diesen Drittstaatsangehörigen wird nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilt, damit sie die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte wahrnehmen können.
37 Dieses Ziel spricht für eine Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109, nach der diese Drittstaatsangehörigen, die bereits durch die Dauer ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ihre Verwurzelung in diesem Mitgliedstaat belegt haben, grundsätzlich wie die Unionsbürger berechtigt sind, sich auch während längerer Zeiträume außerhalb des Unionsgebiets zu bewegen und aufzuhalten, ohne dass dies an sich schon zum Verlust ihrer Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten führt, sofern sie nicht während des gesamten in dieser Bestimmung angeführten Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten von diesem Gebiet abwesend sind.
38 Zweitens geht aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 hervor, dass der Unionsgesetzgeber das in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannte Ziel verfolgen wollte, indem er den betroffenen Personen im Rahmen der Verfahrensvorschriften über die Prüfung des Antrags auf Gewährung dieser Rechtsstellung angemessene Rechtssicherheit bietet. Die Bedeutung, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Bezug auf die Erlangung dieser Rechtsstellung somit beigemessen wird, muss aber notwendigerweise auch für ihren Verlust gelten, da dieser Verlust die Erlangung dieser Rechtsstellung hinfällig macht; dies wird im Übrigen in den Vorarbeiten zur Richtlinie 2003/109 mit den Worten hervorgehoben, dass "[d]er Status eines langfristig Aufenthaltsberechtigten … dem Betreffenden maximale Rechtssicherheit bieten [muss]" und "[d]ie Fälle, in denen dieser Status aberkannt werden kann, … genau geregelt [werden]" (vgl. Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend den Status der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (KOM[2001] 127 endg.).
39 Insoweit gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, insbesondere, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen vorhersehbar sind (Urteil vom 13. Februar 2019, Human Operator, C-434/17, EU:C:2019:112, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen, dass jede physische Anwesenheit des Betroffenen im Unionsgebiet geeignet ist, dessen Abwesenheit zu unterbrechen und folglich den Verlust seiner Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung zu vermeiden, macht die Aufrechterhaltung dieser Rechtsstellung von einem klaren, bestimmten und vorhersehbaren Kriterium abhängig, das sich auf ein rein objektives Ereignis bezieht, so dass eine solche Auslegung am ehesten geeignet ist, den Betroffenen angemessene Rechtssicherheit zu garantieren. [...]
46 Allerdings ist die Situation eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, der einige Tage im Jahr im Unionsgebiet verbracht und somit nicht während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten abwesend war, von der Situation zu unterscheiden, in der Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein solcher Aufenthaltsberechtigter einen Rechtsmissbrauch begangen hat. Im vorliegenden Fall bietet die dem Gerichtshof vorliegende Akte keinen Anhaltspunkt für das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs.
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Unionsgebiet während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreicht, um zu verhindern, dass dieser Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach dieser Bestimmung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet. [...]