VGH Baden-Württemberg

Merkliste
Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.11.2021 - A 13 S 2301/19 - asyl.net: M30318
https://www.asyl.net/rsdb/m30318
Leitsatz:

Kein internationaler Schutz bei ungeklärter Staatsangehörigkeit:

"1. Die Frage, welches Land als Herkunftsland anzusehen ist und ob dort eine entsprechende Bedrohung vorliegt, ist (bloßes) Tatbestandsmerkmal des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine auf bestimmte Herkunftsländer beschränkte Zulassung der Berufung ist daher nicht möglich. Für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gilt nichts anderes.

2. Die Frage der Wirksamkeit einer Berufungsbeschränkung ist für jeden (abtrennbaren) Streitgegenstand gesondert zu prüfen.

3. Kann die Staatsangehörigkeit des Ausländers trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehender Erkenntnismöglichkeiten nicht aufgeklärt werden, so kommt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht. Für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gilt nichts anderes."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Berufung, Berufungsbeschränkung, Asylverfahrensrecht, Herkunftsland, Herkunftsstaat, Staatsangehörigkeit, Eritrea, Äthiopien, Mitwirkungspflicht, subsidiärer Schutz, Flüchtlingsanerkennung, Familienschutz,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4,
Auszüge:

[...]

2. Dagegen ist die Berufung vollumfänglich statthaft, soweit die Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzes begehren. Die insoweit vorgenommene Beschränkung der Berufung auf das mögliche Herkunftsland Äthiopien ist unwirksam.

Nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Frage, welches Land als Herkunftsland anzusehen ist und ob dort eine entsprechende Bedrohung vorliegt ist somit (bloßes) Tatbestandsmerkmal des Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23.01.2008 - 10 B 88.07 - juris Rn. 10: Die Staatsangehörigkeit ist als bloße Vorfrage kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis, sondern Tatfrage). Dagegen kann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht isoliert bezogen auf einzelne Staaten geprüft und abgeschichtet werden. Vielmehr sind alle Staaten in die Prüfung einzubeziehen, deren Staatsangehörigkeit der Betroffene möglicherweise besitzt oder in denen er als Staatenloser seien gewöhnlichen Aufenthaltsort hatte (vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - BVerwGE 122, 376 <378> [zu § 60 Abs. 1 AufenthG]; Hailbronner in Ausländerrecht, AsylG § 3 Rn. 19).

Für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gilt nichts anderes. Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Auch insoweit ist die Frage des Herkunftsstaats und ob dort ein ernsthafter Schaden droht bloßes Tatbestandsmerkmal. Auch hinsichtlich des subsidiären Schutzes kommt eine Abschichtung hinsichtlich verschiedener Länder nicht in Betracht. Dem steht nicht entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht zu § 60 AufenthG ausgeführt hat, der subsidiäre ausländerrechtliche Abschiebungsschutz könne isoliert bezogen auf einen einzelnen Abschiebezielstaat geprüft und abgeschichtet werden (vgl. Urteil vom 08.02.2005 a. a. O.). Denn dies bezog sich auf die damals geltende Fassung des § 60 AufenthG, der gerade nicht - wie nunmehr § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG - auf den Herkunftsstaat, sondern auf „einen Staat“ abgestellt hat. [...]

Die Berufung bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage - soweit Streitgegenstand des Berufungsverfahrens - zu Recht abgewiesen. Die Klage ist zulässig (1.) aber unbegründet (2.). [...]

2. Die Klage ist unbegründet. Die Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes im Bescheid vom 29.09.2016 sind rechtmäßig und verletzen die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

a) Die Kläger haben im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

aa) Gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 1 AufenthG ist - unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben - einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland Bedrohungen seines Lebens, seiner Freiheit oder anderer in Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschützter Rechtsgüter wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung ausgesetzt ist. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren auf Grund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, Urteile vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 <73 Rn. 19> und vom 04.07.2019 - 1 C 33.18 - NVwZ 2020, 161, 163 Rn. 15; Senatsurteile vom 13.07.2021 - A 13 S 1563/20 - juris Rn. 26 und vom 08.07.2021 - A 13 S 403/20 - juris Rn. 19).

Die materielle Beweislast für das Vorliegen der positiven Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft trägt grundsätzlich der Schutzsuchende (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 12; Senatsurteile  vom 13.07.2021 - A 13 S 1563/20 - juris Rn. 28 und vom 08.07.2021 - A 13 S 403/20 - juris Rn. 21). Auch für die Feststellung des maßgeblichen Herkunftslands bedarf es der vollen Überzeugungsgewissheit nach § 108 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom13.02.2014 - 10 C 6.13 - juris Rn. 22 [zum subsidiären Schutz]; Marx, AsylG, 10. Aufl., § 3 Rn. 10). Bleibt die Staatsangehörigkeit trotz Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten unaufklärbar, so kommt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 a. a. O. Rn. 22 [zum subsidiären Schutz]; Treiber in GK-AufenthG, § 60 Rn. 104 [zu § 60 Abs. 1 AufenthG]).

bb) Ausgehend von diesen Maßstäben haben die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Senat vermochte sich schon nicht mit der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendigen Gewissheit von der eritreischen Staatsangehörigkeit der Kläger zu überzeugen (1). Ebenso wenig vermochte der Senat sich von einer äthiopischen Staatsangehörigkeit der Kläger (2) oder von deren Staatenlosigkeit (3) zu überzeugen. Schließlich haben die Kläger auch keinen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz (4).

(1) Die Kläger selbst machen geltend, eritreische Staatsangehörige zu sein, wobei sie dies im Wesentlichen mit einer eritreischen Staatsangehörigkeit ihrer Eltern begründen. Hieran bestehen jedoch durchgreifende Zweifel, die die Kläger nicht auszuräumen vermochten. Weitere Ermittlungsansätze sind für den Senat nicht erkennbar. Kann somit schon eine eritreische Herkunft der Kläger nicht festgestellt werden, kommt es auf die zwischen den Beteiligten und vom Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Verfahren erörterte Frage, unter welchen Umständen Personen, die vor der Unabhängigkeit Eritreas geboren wurden oder die von Personen abstammen, die vor der Unabhängigkeit Eritreas geboren wurden, die äthiopische Staatsangehörigkeit verl ieren oder die eritreische Staatsangehörigkeit erwerben, nicht an.

(a) Objektive Anhaltspunkte für eine eritreische Staatsangehörigkeit des Klägers zu 1) bestehen nicht. [...]

(2) Der Senat vermochte sich auch nicht davon zu überzeugen, dass die Kläger äthiopische Staatsangehörige sind. [...]

(3) Auch von einer Staatenlosigkeit der Kläger konnte sich der Senat nicht überzeugen. [...]

(4) Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 3, 5 AsylG. [...]