VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.12.2021 - A 10 S 2189/21 - asyl.net: M30317
https://www.asyl.net/rsdb/m30317
Leitsatz:

Kein internationaler Schutz für Yezidin aus dem Irak:

1. Angehörigen der yezidischen Glaubensgemeinschaft droht in der Region Sindjar weder durch den irakischen Staat noch durch den IS oder andere nichtstaatliche Akteure eine an ihre Religion anknüpfende flüchtlingsschutzrelevante Gruppenverfolgung.

2. Die Anküpfung an eine in der Vergangenheit ausgeführte Verfolgungshandlung, die in der Gegenwart in Gestalt eines Entzugs der sozioökonomischen Lebensgrundlagen der Schutzsuchenden andauert, setzt voraus, dass der Verfolgungsakteur in der Herkunftsregion der Schutzsuchenden noch präsent ist und den Aufbau relevanter Infrastruktur verhindert. Es ist nicht ersichtlich, dass der IS gegenwärtig hierzu noch willens und in der Lage ist.

3. Bei durch den IS vorverfolgten yesidischen Frauen sprechen aufgrund der fehlenden Präsenz stichhaltige Gründe gegen die reale Möglichkeit einer erneuten Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion; im Anschluss an OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.05.2021 - 9 A 1489/20.A - asyl.net: M29963)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Gruppenverfolgung, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Sindjar, Ninive, Kurdistan, Vorverfolgung, IS, ISIS,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

a) Der Senat geht in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine Verfolgung der Gruppe der Jesiden weder in der Herkunftsregion der Klägerin, der Provinz Ninive, noch im übrigen irakischen Staatsgebiet erfolgt (vgl. zu den Anforderungen der Annahme einer Gruppenverfolgung etwa Senatsurteil vom 05.03.2020 - A 10 S 1272/17 - juris Rn 23 ff. m. w. N.).

aa) Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinen Urteilen vom 10.05.2021 (- 9 A 570.20.A - und - 9 A 1489/20.A -, beide juris) im Einzelnen dargelegt, warum eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat nicht anzunehmen ist (vgl. auch Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - juris sowie Urteile vom 22.10.2019 - 9 LB 130/19 -, vom 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, vom 07.08.2019 - 9 LB 154/19 - und vom 30.07.2019 - 9 LB 133/17 - alle juris; OVG Saarland, Beschluss vom 08.11.2021 - 2 A 255/21 - juris). Es hat dabei insbesondere auf die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung der Jesiden sowie Bestrebungen des irakischen Staates verwiesen, die (insbesondere als Nachwirkung der Verfolgung durch den sog. IS) in vielfacher Hinsicht sehr schwierige Lage der großen Mehrheit der Jesiden im Irak, vor allem in der Herkunftsregion der Klägerin, zu verbessern (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen Urteile vom 10.05.2021 a.a.O. Rn. 50-65). Die vom Senat im vorliegenden Verfahren ausgewerteten Erkenntnismittel bestätigen diese Einschätzung. Insbesondere hat der irakische Staat am 01.03.2021 ein Gesetz verabschiedet, das die Gräueltaten des sog. IS an der Minderheit der Jesiden als Völkermord anerkennt und ihnen Schutz zuspricht und welches für jesidische weibliche Überlebende ein monatliches Stipendium, Wohngrundstücke oder kostenlosen Wohnraum sowie psychologische Unterstützung vorsieht. Überlebende von "IS"-Angriffen werden außerdem bei der Einstellung von 2% aller Stellen im öffentlichen Sektor bevorzugt. Im Mai 2021 hat der Ministerrat zudem eine Generaldirektion für die Angelegenheiten der jesidischen Überlebenden eingerichtet, die dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersteht, und der Ministerrat ernannte eine jesidische Juristin zur Generaldirektorin (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 103 ff.; Deutsche Welle, Bericht vom 30.03.2021, abrufbar unter www.dw.com/de/irakjesiden-f%C3%BChlen-sich-weiterhin-bedroht/a-57042162). Zuletzt hat das irakische Parlament im September 2021 weitere Regelungen zugunsten jesidischer Überlebender der Gewalttaten des sog. IS erlassen, die von Menschenrechtsorganisationen als wesentlichen Schritt hin zur Leistung von Reparationen angesehen werden (vgl. Amnesty International, Bericht vom 02.11.2021, abrufbar unter www.amnesty.org/en/latest/news/2021/11/iraq-yezidi-reparations-law-progress-welcome-but-more-must-be-done-to-assist-survivors/). Auch in der Kurdischen Region im Irak (RKI) ist das Jesidentum als Religionsgemeinschaft anerkannt. Das Ministerium für Stiftungen und religiöse Angelegenheiten (MERA) der Kurdischen Regionalregierung (KRG) bezahlt zudem die Gehälter der Geistlichen der jesidischen Gemeinschaft und kommt für die Instandhaltung ihrer religiösen Stätten auf (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl a.a.O.).

bb) Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak durch den sog. IS, insbesondere in der Provinz Ninive oder in Teilbereichen von Ninive (insbesondere im Bereich des Ortes Kodscho), ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zu verzeichnen.

Der sog. IS hat in der Jahren 2014 bis 2017 in Teilen des irakischen Staatsgebiets die Gebietshoheit ausgeübt und in den von ihm beherrschten Gebieten Jesiden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit systematisch in einer Art und Weise verfolgt, die u. a. vom UN-Menschenrechtsrat (und im März 2021 auch durch den irakischen Staat) als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen qualifiziert wurden. Seitdem es im Dezember 2017 landesweit gelungen ist, dem sog. IS die Gebietshoheit wieder zu entziehen, fehlen diesem die militärischen Fähigkeiten zu einer Fortsetzung der genannten Gruppenverfolgung. Seitdem agiert der sog. IS aus dem Untergrund und versucht, vor allem durch gezielte Terroranschläge regional oder lokal Einflusssphären zu erhalten oder wiederzugewinnen ("asymmetrische Kriegsführung", vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 22.01.2021, S. 16; GIGA FOCUS, Not a Storm in a Teacup: The Islamic State after the Caliphate, 04/2021, S. 4), wobei der Erfolg dieser Bemühungen abhängig von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen sehr unterschiedlich und hochvolatil ist. Insbesondere in Landesteilen, in denen das Gewaltmonopol des irakischen Staats in Konkurrenz mit anderen Akteuren, sei es mit örtlichen Milizen oder auch der RKI, tritt, besteht teilweise ein örtliches oder in sehr dünn besiedelten Bereichen auch regionales Sicherheitsvakuum, das Aktivitäten des sog. IS Raum gibt (vgl. hierzu auch die Karte in Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 20).

Auch in der Herkunftsregion der Klägerin, die zu den sog. umstrittenen Gebieten im Irak gehört, besteht eine Lage, die Aktivitäten des sog. IS zumindest in Teilbereichen eher erleichtert. [...] Es ist aber nichts dafür ersichtlich, dass diese Personen in der Lage sind, in das nördlich des Ortes Kodscho befindliche, heute nach den Angaben des Sachverständigen von rund 100.000 bis 140.000 Jesiden bewohnte und unter der Kontrolle der irakischen Armee und mehreren Milizen stehende Gebiet südlich und nördlich des Sindschar-Gebirges einzudringen, auch wenn dies selbstverständlich die Möglichkeit punktueller Kommandoaktionen oder Terroranschläge nicht ausschließt.

Dementsprechend sind die Aktivitäten, die der sog. IS in der Region Sindschar entfaltet, bei weitem nicht von einer Intensität geprägt, die eine für eine Gruppenverfolgung erforderliche hinreichende sog. Verfolgungsdichte (vgl. Senatsurteil vom 05.03.2020 - A 10 S 1272/17 - juris Rn. 24) zulasten aller in der Region ansässigen Jesiden erreicht. Der Senat macht sich insoweit die zuletzt vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in seinen Urteilen vom 10.05.2021 auf Grundlage einer umfassenden Auswertung der Erkenntnismittel getroffenen Feststellungen zu eigen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 10.05.2021 - 9 A 570.20.A - und - 9 A 1489/20.A - jew. juris Rn. 66-201; ebenso zuvor Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 11.03.2021 - 9 LB 129/19 - juris Rn. 58-80).

Die vom Senat ausgewerteten Erkenntnismittel bestätigen dieses Lagebild auch für den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (vgl. insbesondere Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 16 ff., 103 ff.). Nach den Angaben des in der mündlichen Verhandlung befragten Sachverständigen dürfte die Region Sindschar (anders als in den Jahren 2014-2017, in denen die Region die verschiedenen vom sog. IS beherrschten Gebiete miteinander verband) zudem jedenfalls gegenwärtig eine eher untergeordnete strategische Bedeutung für den sog. IS haben.

cc) Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch andere nicht-staatliche Akteure wie insbesondere durch die zahlreichen im Irak und auch in der Provinz Ninive aktiven Milizen besteht nicht (vgl. im Einzelnen OVG Nordrhein-Westfalen Urteile vom 10.05.2021 a. a. O. Rn. 202-220). Keine der in der Provinz Ninive tätigen (nach Auskunft des Sachverständigen) rund zehn Milizen ist explizit gegen die jesidische Bürgerinnen und Bürger gerichtet. Zumindest eine der Milizen wird zudem von einem jesidischen Anführer geleitet. Insbesondere in den Diensten der kurdischen Perschmerga finden sich außerdem in größerer Zahl auch Jesiden. [...]

aa) Der Senat hat erwogen, ob in Fällen, in denen die durch einen Akteur im Sinne von § 3c AsylG in der Vergangenheit ausgeführte Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG (ggf. auch) in einem Entzug der sozioökonomischen Lebensgrundlagen des Verfolgten liegt, die Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG dann weiter begründet ist, wenn der Verfolgungsakteur zwar nicht selbst erneut aktiv werden wird, aber für den Verfolgten der durch den (ehemaligen) Verfolger ins Werk gesetzte Entzug der sozioökonomischen Lebensgrundlagen in der Weise fortbesteht, dass in der Herkunftsregion für den Verfolgten weiter den Grad einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK erreichende humanitäre Verhältnisse bestehen.

Eine solche Situation dürfte im vorliegenden Fall zu bejahen sein. Die verschiedenen von der Klägerin erlittenen Verfolgungshandlungen sind teilweise - wie insbesondere ihre Gefangenschaft und Versklavung in der Stadt Mossul - abgeschlossen. Ein wesentliches Charakteristikum der Verfolgung der Jesiden durch den sog. IS in der Region Ninive bestand aber auch darin, gezielt die sozioökonomischen Lebensgrundlagen jesidischen Lebens in der Provinz nachhaltig und möglichst dauerhaft zu zerstören, u. a. durch das Vergiften von Brunnen, durch das Zerstören von öffentlicher Infrastruktur in Gestalt von Stromnetzen, Krankenhäusern, Schulen und Kraftwerken und durch die großflächige Verminung von Siedlungen und landwirtschaftlichen Flächen (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.05.2021 - 9 A 570.20.A - juris Rn. 248). Der vom sog. IS gegenüber der Klägerin bewirkte Entzug ihrer sozioökonomischen Lebensgrundlagen bestand dabei neben den genannten, alle Jesiden betreffenden Taten, vor allem in der fast vollständigen Zerstörung des Heimatortes der Klägerin (Kodscho), der Ermordung eines Großteils der Einwohner des Ortes und weiter Teile der Kernfamilie der Klägerin. [...]

Entscheidend gegen eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aufgrund der in der Vergangenheit der Klägerin zugefügten (in ihren Wirkungen teilweise andauernden) Verfolgungshandlungen spricht allerdings aus Sicht des Senats, dass der Wortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG ("Furcht vor Verfolgung"), des § 3a Abs. 1 AsylG ("Handlung") und des § 3c AsylG ("Akteur") voraussetzen, dass zum Zeitpunkt der Rückkehr des Schutzsuchenden in seine Herkunftsregion die Vornahme einer bestimmten Verfolgungshandlung von einem der Akteure des § 3c AsylG auszugehen droht. Damit knüpfen die Vorschriften an die Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 A Nr. 2 der GFK an, der ebenfalls von einer "begründeten Furcht vor Verfolgung" spricht. Auch wenn eine Verfolgungshandlung in diesem Sinne ggf. auch ein Unterlassen sein kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 - 10 C 52.07 - BVerwGE 133, 55 = juris Rn. 24), bedarf es doch stets eines Verantwortlichen, der über das Tun oder Unterlassen die Kontrolle ausübt bzw. dem das Tun oder Unterlassen zugerechnet werden kann. Dementsprechend wird die Formulierung "Furcht vor Verfolgung" allgemein dahingehend verstanden, dass aus der Perspektive des Schutzsuchenden hinreichend konkrete Anhaltspunkte für die Annahme vorliegen müssten, dass Akteure im Sinne von § 3d AsylG Maßnahmen beabsichtigen, die zu einer Gefahrenlage führen, die als Verfolgung zu qualifizieren ist (vgl. etwa Kluth in ders./Heusch, BeckOK AuslR, AsylG § 3 Rn. 10). Soweit in der Literatur teilweise davon gesprochen wird, dass auch "vergangene Verfolgungshandlungen" von Bedeutung sein können, wenn sie im Zeitpunkt der Entscheidung über den Schutzantrag noch Wirkungen entfalten (vgl. Bergmann in ders./Dienelt, 13. Aufl., AsylG § 3a Rn. 4) bzw. von einer "Fernwirkung früherer Verfolgungsmaßnahmen", die in der Weise nachwirken, dass sie eine "fortdauernde Verfolgungsgefahr auch in der Zukunft ergeben" (vgl. Bergmann in ders./Dienelt, 13. Aufl., AsylG § 73 Rn. 11) die Rede ist, sind auch damit ersichtlich nur Konstellationen gemeint, in denen bei der Rückkehr des Schutzsuchenden in sein Heimatland ein Verfolgungsakteur präsent ist, der anknüpfend an frühere Verfolgungshandlungen (wie etwa ein Todesurteil) erneut aktiv wird (im Beispiel durch Vollstreckung der verhängten Strafe).

Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis der § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1 und § 3c AsylG in systematischer Auslegung durch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG, dem zufolge ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung trotz zwischenzeitlich beendeten Verfolgungsmaßnahmen nicht in Betracht kommt, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Voraussetzung ist dabei insbesondere, dass die auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe durch die zwischenzeitlich beendete Verfolgungsmaßnahme verursacht worden sind (vgl. etwa Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, AsylG § 73 Rn. 21). Dem lässt sich im Umkehrschluss entnehmen, dass die bloße kausale Verursachung von fortbestehenden Wirkungen einer als Handlung abgeschlossenen Verfolgung (jedenfalls bei Fehlen eines Verfolgungsakteurs im Zeitpunkt der Rückkehr in das Heimatland) nicht genügt, um auch gegenwärtig noch eine Verfolgung zu begründen.

Auch der Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 der sog. Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) spricht dafür, dass ein bloßes Fortwirken einer in der Vergangenheit ins Werk gesetzten Verfolgung nicht genügt, sondern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Fall einer Vorverfolgung eine "erneute", einem Verfolgungsakteur zurechenbare Verfolgungshandlung voraussetzt.

Gemessen hieran kann die von der Klägerin im Jahr 2014 erlittene Verfolgung in Gestalt der durch den sog. IS begangenen Zerstörung der sozio-ökonomischen Grundlagen jesidischen Lebens in der Region Sindschar bzw. im Bereich des Ortes Kodscho trotz ihrer Fortwirkung heute keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mehr begründen, weil es der sog. IS jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr in der Hand hat, einen Wiederaufbau insbesondere von öffentlicher Infrastruktur in der genannten Region zu verhindern. Zwar ist der IS - wie oben ausgeführt - in der Gegend noch aktiv und übt auch gegenwärtig noch vereinzelt Anschläge auf die Lebensgrundlagen der örtlichen Bevölkerung aus, etwa durch das Verbrennen von Feldern. Die Gründe für die bislang unzureichenden Wiederaufbauleistungen liegen aber im Wesentlichen nicht in den fortbestehenden Aktivitäten des sog. IS, sondern insbesondere in den Gebietsstreitigkeiten zwischen der RKI und dem irakischen Staat, der (auch finanziellen) Schwäche des irakischen Staats, in Aktivitäten von aus dem Ausland (insbesondere dem Iran) unterstützter Milizen in der Region und auch in den Auswirkungen der Corona-Pandemie (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.05.2021 - 9 A 570.20.A - juris Rn. 247 ff.). So bestehen nach Auskunft des Sachverständigen beispielsweise Pläne, das bis heute weitgehend zerstörte und unbewohnte Dorf Kodscho auch langfristig nicht wieder zu besiedeln, und für die ehemaligen Bewohner des Dorfs eine neue Siedlung in der Nähe zu errichten. Die Gründe für die bislang fehlende Umsetzung dieses Plans sind vielfältig; es ist jedenfalls nichts dafür ersichtlich, dass der sog. IS heute willens oder in der Lage wäre, die Errichtung eines neuen Dorfes zu verhindern.

Auch mit dem Umstand, dass die der Klägerin bei einer (fiktiven) Rückkehr in ihre Heimatregion drohenden Gefahren maßgeblich aus dem Fehlen von (insbesondere männlichen) Familienmitgliedern resultieren, lässt sich eine Flüchtlingseigenschaft der Klägerin nicht begründen. Die Ermordung der Familienangehörigen der Klägerin im Jahr 2014 stellt eine abgeschlossene Verfolgungshandlung dar, die heute zwar noch fortwirkt und wohl gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG einem Widerruf einer bereits zuerkannten Flüchtlingseigenschaft entgegen stünde. "Auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe" im Sinne von § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylG genügen allerdings nicht für die hier begehrte erstmalige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

bb) Der Senat hat auch in Betracht gezogen, ob der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft mit Blick darauf zuerkannt werden kann, dass der Grad der der Klägerin zumutbaren Gefahr einer erneuten Verfolgung aufgrund der von ihr erlittenen Vorverfolgung erheblich abgesenkt sein dürfte.

Wie ausgeführt ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Annahme einer "beachtlichen" Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht an eine prozentuale Eintrittswahrscheinlichkeit einer befürchteten Verfolgungshandlung geknüpft, sondern ist letztlich eine unter "Abwägung aller Umstände" aus der Perspektive eines "vernünftig denkenden Menschen" zu beantwortende Frage der Zumutbarkeit. Im Rahmen der Abwägung aller Umstände ist auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts "in einem gewissen Umfang" in die Betrachtung einzubeziehen. Nachdem auch die Vorschrift des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU Ausdruck des Zumutbarkeitsgedankens ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 - a. a. O. juris Rn. 21 m. w. N., und - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 = juris Rn. 31), ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer Rückkehr in das Heimatland zudem auch eine Vorverfolgung bzw. die Art und Weise der Vorverfolgung zu berücksichtigen. Gleichwohl genügt auch im Fall einer schweren Vorverfolgung die "bloße theoretische Möglichkeit" einer erneuten Verfolgung nicht, weil "stichhaltige Gründe" gegen die "reale Möglichkeit" einer erneuten Verfolgung sprechen.

Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass im Fall der Klägerin in diesem Sinne bei einer (angesichts des ihr zuerkannten Abschiebungsschutzes fiktiven) Rückkehr in ihre Herkunftsregion die reale Möglichkeit einer erneuten Verfolgung durch den sog. IS oder andere Akteure besteht.

Dabei dürfte der Grad der der Klägerin zumutbaren Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verfolgung angesichts der von ihr als Angehörige der Volksgruppe der Jesiden (aber auch als individuelle Person) erlittenen Vorverfolgung gering, jedenfalls deutlich unter 50 Prozent anzusetzen sein.

Die Klägerin war nach ihren vom Bundesamt und vom Verwaltungsgericht nicht in Frage gestellten (auch durch ihren Vortrag im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Senat jedenfalls im Wesentlichen nicht durchgreifend in Zweifel zu ziehenden) Angaben in der Vergangenheit einer religionsbezogenen Verfolgung durch den sog. IS als nichtstaatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG ausgesetzt. Dabei war sie nicht nur einer Gruppenverfolgung als Angehörige der Volksgruppe der Jesiden ausgesetzt, sondern war zugleich auch Opfer einer individuellen Verfolgung: Sie hat im Rahmen des Angriffs des sog. IS auf ihr Heimatdorf ihre Eltern und zwei ihrer Brüder verloren, ebenso das Elternhaus und die übrige Gemeinschaft in Kodscho. Zudem hat sie durch die Gefangenschaft und Versklavung durch den sog. IS schwerstes Leid mit wohl bis heute bestehenden psychischen Folgen erlitten.

Die Gefahr, erneut Opfer von derartigen Verbrechen bzw. einer Gewalttat des sog. IS zu werden, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber - wie oben ausgeführt - als sehr gering einzuschätzen. Der Senat sieht insbesondere im Hinblick auf die Schilderungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung keine Anhaltspunkte dafür, dass der Klägerin bei einer (fiktiven) Rückkehr in ihre Heimatregion eine Gefahr durch den sog. IS drohen würde. Nachdem ein Niederlassen in ihrem alten, bis heute weitgehend zerstörten und unbewohnten Heimatdorf Kodscho ausscheidet, müsste die naheliegender Weise auf dem Landweg auf der Fernstraße 47 aus östlicher Richtung in die Region kommende Klägerin versuchen, nördlich von Kodscho, insbesondere in der rund 23 km nördlich des Ortes an der Fernstraße 47 gelegenen Provinzhauptstadt Sindschar eine Unterkunft und ein wirtschaftliches Auskommen zu finden. Würde ihr dies gelingen, was der Senat nach den Ausführungen des Sachverständigen aus verschiedenen Gründen (insbesondere angesichts der wesentlich auf Familien- und Clanunterstützung aufbauenden sozioökonomischen Strukturen der Region, der sehr schwachen Stellung einer alleinstehenden Frau in einer patrimonialen Gesellschaftsstruktur und der Vorbehalte von Jesiden gegenüber Frauen, die - wie die Klägerin - als Sklavinnen von IS-Kämpfern gehalten wurden) für sehr unwahrscheinlich erachtet, spricht nichts dafür, dass sie dort (erneut) Opfer des sog. IS wird, einerseits, weil dieser in dem von verschiedenen - teilweise auch von Jesiden angeführten - Milizen beherrschten Bereich der Stadt Sindschar (soweit ersichtlich) über keine Strukturen verfügt, andererseits, weil die Klägerin höchstwahrscheinlich kein Ziel wäre, welches der sog. IS im Rahmen seiner gegenwärtigen Strategie für eine gezielte Kommandoaktion auswählen würde. Aber auch wenn es der Klägerin - wovon der Senat ausgeht - nicht gelingen würde, im Bereich der Stadt Sindschar eine Unterkunft und ein wirtschaftliches Auskommen zu finden, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass sie dort erneut Opfer des sog. IS werden würde. Die der Klägerin heute in ihrer Herkunftsregion drohenden Gefahren sind (insbesondere nach der Auskunft des Sachverständigen) vielmehr in aller erster Linie sozioökonomische Gefahren in Verbindung mit der Gefahr, in einer männerdominierten, stark brutalisierten Gesellschaft mit einem schwachen strafrechtlichen staatlichen Schutz in einer hilflosen Situation von Männern als "Freiwild" angesehen zu werden, ohne dass sich diese Gefahren aber einer bestimmten Gruppe bzw. einem Verfolgungsakteur im Sinne von § 3c AsylG zurechnen ließen. [...]