Rechtswidrige Ausweisung eines in Deutschland aufgewachsenen Mannes aus Marokko:
"1. Die Ausweisung eines Ausländers bedarf schon allein deswegen sehr gewichtiger Gründe, weil der Betroffene als Kleinkind nach Deutschland gekommen ist und seither rechtmäßig hier lebt, auch wenn weitere Integrationsfaktoren nicht vorliegen.
2. Ladendiebstähle sind auch dann, wenn sie gehäuft auftreten, keine "sehr gewichtigen Gründe", die die Ausweisung eines als Kleinkind nach Deutschland gekommenen und seither rechtmäßig hier lebenden Ausländers rechtfertigen können."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die zulässige Klage ist begründet, denn die Ausweisung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten aus Art. 8 EMRK (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar geht vom Aufenthalt des Klägers in Deutschland eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus (I.). Die Ausweisung ist aber unverhältnismäßig; das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt das Ausweisungsinteresse (II.). Daher ist auch das an die Ausweisung anknüpfende Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig (III.).
I. Vom Aufenthalt des Klägers in Deutschland geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
Bei der tatrichterlichen Prognose, ob eine Wiederholung von Straftaten, die mit der Anlasstat oder den Anlasstaten der Ausweisung vergleichbar sind, droht, sind alle Umstände des Einzelfalls gegeneinander abzuwägen, die geeignet sind, Auskunft über die gegenwärtig noch von dem Betroffenen ausgehende Gefährdung zu geben (OVG Bremen, Beschl. v. 02.12.2020 – 2 B 257/20, juris Rn. 16 m.w.N.).
1. Der Kläger wird mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Ladendiebstähle begehen und wird, wenn er dabei von Zeugen festgehalten wird, in einigen Fällen wahrscheinlich versuchen zu schubsen oder sich loszureißen, um zu entkommen. [...]
2. Nur eine entfernte Möglichkeit ist es dagegen, dass der Kläger schwerwiegendere Straftaten begehen wird. [...]
II. Die Ausweisung ist unverhältnismäßig. Die vom Kläger ernsthaft drohenden Straftaten wiegen nicht schwer genug, um dem Ausweisungsinteresse ein Übergewicht gegenüber dem Bleibeinteresse zu verschaffen.
1. Aus den als Regeltatbestände ausgestalteten Abwägungsdirektiven der §§ 54, 55 AufenthG ergeben sich sowohl besonders schwerwiegende Ausweisungs- als auch besonders schwerwiegende Bleibeinteressen. Der Kläger wurde vom Amtsgericht mit Urteil vom 20.07.2016 wegen Diebstahls in 12 Fällen unter Einbeziehung einer vorangegangenen Verurteilung wegen Diebstahls in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Er hat damit die Tatbestände des § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a d) AufenthG verwirklicht. Er besitzt aber auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
2. Entscheidend ist die umfassende, einzelfallbezogene Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG, die insbesondere unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Art. 8 EMRK zu erfolgen hat (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 15.11.2019 – 2 B 243/19, juris Rn. 21). Diese Abwägung geht hier zugunsten des Klägers aus; die Ausweisung verletzt sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK.
a) Die Ausweisung des Klägers greift in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK ein. Der Begriff des "Privatlebens” i.S.v. Art. 8 EMRK umfasst die Gesamtheit der sozialen Beziehungen zwischen ansässigen Zuwanderern und der Gesellschaft, in der sie leben (EGMR, Urt. v. 18.10.2006 – 46410/99, Üner ./. NL, juris Rn. 59; OVG Bremen, Beschl. v. 17.01.2019 - 1 B 333/18 -, juris Rn. 19). Der Kläger ist im Alter von drei Jahren nach Deutschland eingereist und hat hier seit 41 Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt. Schon allein deswegen führt er in Deutschland ein von Art. 8 EMRK geschütztes Privatleben (vgl. EGMR, Urt. v. 23.10.2018, - 7841/14, Levakovic ./. Dänemark, Rn. 34 = NVwZ 2019, 1427; OVG Bremen, Beschl. v. 23.04.2010 – 1 S 213/09, juris Rn. 8).
b) Die Ausweisung des Klägers ist nicht von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Sie ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK, weil sie unverhältnismäßig ist. [....]
Die Gewichtung des Bleibeinteresses darf auch bei Ausländern, die den ganzen oder weit überwiegenden Teil ihres Lebens im Aufenthaltsstaat gelebt haben, nicht schematisch-abstrakt erfolgen. Sie ist nicht bei allen Personen, die zu dieser Gruppe zählen, stets dieselbe (OVG Bremen, Beschl. v. 12.03.2020 – 2 B 19/20, juris Rn. 32). Dies ändert aber nichts daran, dass das Bleibeinteresses eines Ausländers allein schon deswegen, weil er in Deutschland geboren bzw. als Kleinkind hierhergekommen ist und sein Aufenthalt seither (zumindest in gewissem Umfang) rechtmäßig war, ein Niveau aufweist, das es erfordert, dass die von ihm ausgehende Gefahr eine gewisse Mindestschwelle erreichen muss, die es rechtfertigt, sie als "sehr gewichtig" zu bezeichnen.
bb) Die Straftaten, deren künftige Begehung durch den Kläger ernsthaft droht (s.o. Ziff. I.), erreichen die Mindestschwelle eines "sehr gewichtigen" Ausweisungsgrundes nicht.
Der Begriff des "sehr gewichtigen Ausweisungsgrunds" im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nicht gleichbedeutend mit dem "besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse" nach § 54 Abs. 1 AufenthG. Er steht im Zusammenhang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die aus der Europäischen Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland erwachsen, und ist daher einer Definition oder auch nur verbindlichen Konkretisierung durch den deutschen Gesetzgeber nicht zugänglich (vgl. Art. 27 Satz 1 des Wiener Vertragsrechtsübereinkommens). Völker- und auch verfassungsrechtlich geboten ist die Berücksichtigung des konkreten der Verurteilung zugrundeliegenden Sachverhalts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, juris Rn. 19) und sämtlicher Tatumstände, einschließlich der sich aus den Taten ergebenden Gefahren für Dritte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 – 2 BvR 304/07, juris Rn. 42).
Beispiele für Delikte, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als schwer genug ansieht, um die Ausweisung von im Gastland geborenen bzw. als Kleinkinder eingereisten Ausländern rechtfertigen zu können, sind schwere räuberische Erpressung, Raub, gefährliche Körperverletzung, Betäubungsmittelhandel und sexueller Kindesmissbrauch (vgl. z.B. EGMR, Urt. v. 13.10.2011 - 41548/06, Trabelsi ./. Deutschland, EuGRZ 2012, 11 [15 – Rn. 57 f.]; Urt. v. 25.03.2010 – 40601/05, M ./. Deutschland, EZAR NF 40 Nr. 12, Rn. 55; Urt. v. 20.12.2018 – 18706/16, Cabucak ./. Deutschland, Ziff. 9 – 13, 46, 62, hudoc.echr.coe.int/eng; Urt. v. 08.12.2020 – 59006/18 -, M.M. ./. Schweiz, Ziff. 57 – 60, hudoc.echr.coe.int/eng; Beschl. v. 20.11.2018 – 16711/15, Mohammad ./. Dänemark, Rn. 33 ff.; hudoc.echr.coe.int/eng. Es muss sich dabei allerdings nicht notwendigerweise um schwerste Kriminalität handeln. Im Fall Shala ./. Schweiz hat der Gerichtshof für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung des im Alter von sieben Jahren in die Schweiz eingewanderten Beschwerdeführers Verurteilungen wegen fahrlässiger Körperverletzung, Straßenverkehrsdelikten, Beteiligung an einer Schlägerei, Missbrauchs einer Fernmeldeanlage sowie versuchter Erpressung (allerdings mit verbalen und schriftlichen Todesdrohungen gegen das Opfer) zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen sowie zu Freiheitsstrafen von drei Monaten auf Bewährung, 30 Tagen und 45 Tagen gerade noch ausreichen lassen (vgl. EGMR, Urt. v. 15.11.2012 – 52873/09, Shala ./. Schweiz, Ziff. 8 – 11, 50 – 52, hudoc.echr.coe.int/eng. [...]
Der Senat verkennt weder die Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten noch den Umstand, dass das Amtsgericht bei der letzten Verurteilung gewerbsmäßiges Handeln festgestellt hat. Soweit aus den begangenen Taten noch auf eine Wiederholungsgefahr bzgl. gleichartiger Delikte geschlossen werden kann (s. oben Ziff. I.), weisen sie aber Besonderheiten auf, die sie als deutlich weniger schwerwiegend erscheinen lassen, als dies sonst bei qualifizierten Diebstahlsdelikten der Fall ist. Es handelt sich um Diebstähle von Waren aus Selbstbedienungsläden, wobei der Kläger das Diebesgut in seinen Rucksack, Taschen oder unter seine Kleidung steckte und den Laden ohne zu bezahlen verließ. [...] Das vergleichsweise geringe ausweisungsrechtliche Gewicht dieser Taten ergibt sich freilich nicht schon allein aus dem Wert der Beute, sondern aus einer Gesamtbetrachtung von Beutewert und Begehungsweise. Warendiebstähle aus Selbstbedienungsläden in der Weise, auf die sie der Kläger begangen hat, erfordern eine deutlich geringere kriminelle Energie als dies bei Eigentums- und Vermögensdelikten die Regel ist. Die gestohlenen Gegenstände sind leicht zugänglich und mit einem Handgriff erreichbar. Wenn die Diebstähle – wie hier – in Filialen großer Einzelhandelsketten begangen werden, ist der Geschädigte zudem anonym und der verursachte Schaden für den Täter nicht unmittelbar erfahr- und nachfühlbar. Ladendiebstahl wird als eines der klassischen Delikte der Kleinkriminalität betrachtet (vgl. z.B. Bay. VGH, Urt. v. 02.11.2016 – 10 ZB 15.2656, juris Rn. 14; VG Berlin, Urt. v. 10.09.2013 – 11 K 539.12, juris Rn. 22). Das öffentliche Interesse an ihrer Verhinderung rechtfertigt die Ausweisung eines Menschen, der – wie der Kläger – Mitte Vierzig ist und seit dem Alter von drei Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt, nicht.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Kläger in seltenen Fällen – so bei zwei der 36 Taten, die Gegenstand der letzten beiden Verurteilungen waren – Personen, die ihn nach den Diebstählen festgehalten haben, beiseite geschubst bzw. sich von ihnen losgerissen hat. Beide Taten wurden vom Amtsgericht nicht als Verbrechen nach § 252 StGB gewertet, sondern "nur" als Nötigung und in einem Fall – weil die Person sich an der Schulter verletzt hatte, als der Kläger sich von ihr losriss – zusätzlich als einfache Körperverletzung (vgl. das Urteil des Amtsgerichts vom 20.07.2016). Diese Straftatbestände weisen keine erhöhte Mindeststrafe auf und auch im konkreten Fall bewegten sich die verhängten Einzelstrafen mit vier bzw. zwei Monaten im unteren Bereich. Die in einem Fall eingetretene Verletzung war nicht sehr schwerwiegend. Sehr bedeutsam ist für den Senat bei der Gewichtung dieser Tat, dass das Strafgericht beim Kläger bezüglich der Verletzung des Opfers nur Eventualvorsatz festgestellt hat. [...]
cc) Die zusätzliche Berücksichtigung generalpräventiver Ausweisungsinteressen führt ebenfalls nicht zur Verhältnismäßigkeit der Ausweisung.
Für ein generalpräventives Ausweisungsinteresse ist erforderlich, dass die den Ausweisungsanlass bildende Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis daran besteht, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch die Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Dabei kommt es stets auf die besondere Schwere der Straftat im Einzelfall an. Dies setzt voraus, dass die konkreten Umstände der begangenen Straftat oder Straftaten, wie sie sich aus dem Strafurteil und dem vorangegangenen Strafverfahren ergeben, ermittelt und individuell gewürdigt werden. Die besondere Schwere der Straftat im Hinblick auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Ausweisung auf andere Ausländer erfordert, dass von einer derartigen Straftat eine besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft ausgeht (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.02.2012 – 1 C 7/11, juris Rn. 24; BVerfG, Beschl. v. 10.08.2007 – 2 BvR 535/07, juris Rn. 23 f.). [...]