VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.11.2021 - 5a K 6226/17.A - asyl.net: M30287
https://www.asyl.net/rsdb/m30287
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen ehemaligen Offizier des afghanischen Inlandsgeheimdienstes:

1. Einem ehemaligen Angehörigen des afghanischen Geheimdienstes droht eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung durch die Taliban.

2. Die Taliban haben Zugriff auf Datenbanken der internationalen Streitkräfte erlangt, in denen biometrische Daten von ehemaligen Ortskräften und anderen afghanischen Staatsangehörigen gespeichert wurden. In der Folge besteht für Personen, die mit dem ausländischen Militär kooperiert haben, die Gefahr der Identifizierung durch die Taliban. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Militär, Armee, Polizei, Geheimdienst, Flüchtlingseigenschaft, Taliban, geschlechtsspezifische Verfolgung, politische Verfolgung, NDS
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger in Afghanistan Angehöriger des afghanischen Inlandsgeheimdienstes (NDS) gewesen ist und er im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Taliban bis hin zu seinem Tod zu befürchten hätte.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichtes dargelegt, Angehöriger des afghanischen Inlandsgeheimdienstes (NDS) gewesen zu sein. Dies folgt aus den insoweit widerspruchsfreien und glaubhaften Schilderungen des Klägers in seinen Anhörungen bei dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie den von ihm vorgelegten Unterlagen. Der Kläger hat in beiden Anhörungen vorgetragen, Angehöriger des afghanischen Geheimdienstes gewesen zu sein und zum Beleg dafür zahlreiche Dokumente (u. a. Kopie der Dienstausweise sowie zahlreiche Fotos, die den Kläger in der Uniform des Geheimdienstes und beim Einsatz zeigen) vorgelegt. Insoweit wird insbesondere auf Bl. 59 und 60 der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf Bl. 90 ff. der Gerichtsakte verwiesen. Zweifel an der Authentizität der Dokumente hat der erkennende Einzelrichter angesichts des erheblichen Umfangs der Unterlagen, die die Tätigkeit des Klägers in Afghanistan dokumentieren sowie seinen insbesondere in der mündlichen Verhandlung abgegebenen Erläuterungen nicht. So konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung insbesondere zu den in der Gerichtsakte befindlichen Lichtbildern, die den Kläger teils uniformiert, teils in Zivil bei seiner Tätigkeit als Geheimdienstmitarbeiter zeigen (siehe Bl. 101 bis 108 der Gerichtsakte) ohne zu zögern und gut nachvollziehbar den jeweiligen Kontext der Fotografien darstellen.

Schon vor dem Hintergrund der besonders gefahrgeneigten Tätigkeit des Klägers für den inländischen Geheimdienst in Afghanistan (NDS) steht für das erkennende Gericht fest, dass zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Afghanistan im August 2015 sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit wegen seiner Beschäftigung als Mitglied des afghanischen Inlandsgeheimdienstes (NDS) (vgl. dazu u. a. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 55) und seiner (tatsächlichen oder jedenfalls vermeintlichen) politischen Überzeugung durch die Taliban bedroht gewesen sind. Der Kläger ist in Afghanistan über viele Jahre für den afghanischen Inlandsgeheimdienst tätig gewesen. Eine individuelle Bedrohungslage für den Kläger ist seiner Tätigkeit als Sicherheitsoffizier immanent gewesen. In Afghanistan gab es vor dem Sturz der Zivilregierung im August 2021 ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen gegen Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte. Die Angriffe reichten von Einschüchterungen, Attentaten, Entführungen und Punktzielangriffen bis zur Verwendung von selbst gebauten Sprengkörpern und Selbstmordattentaten. Die zielgerichteten Angriffe auf Militärangehörige konnten als Teil von Bestrebungen regierungsfeindlicher Gruppen gesehen werden, Kontrolle über Gebiete und Bevölkerungsgruppen zu erlangen. Die Bevölkerung wurde durch Drohungen oder auch durch Anwendung von Gewalt gezwungen, regierungsfeindliche Gruppen zu unterstützen. Diese Einschüchterungstaktik wurde verstärkt durch das verminderte allgemeine Vertrauen in die Kapazitäten der afghanischen Regierung und der internationalen Kräfte, die Sicherheit aufrechtzuerhalten oder grundlegende Dienstleistungen anzubieten (vgl. dazu etwa VG München, Urteil vom 05. Juli 2013 – M 1 K 13.30268 –, Rn. 25, juris; UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender – Zusammenfassende Übersetzung – Stand: 24. März 2011, S. 3 f.).

Mit der Machtübernahme der Taliban in ganz Afghanistan spätestens seit dem 15.08.2021 besteht für den Kläger auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine landesweite Verfolgungsgefahr durch die herrschenden Taliban im Fall der Rückkehr in sein Heimatland. Schutz durch die ehemals bestehende Zivilregierung sowie die ehemaligen afghanischen Sicherheitskräfte besteht nicht mehr, da diese schlicht nicht mehr existieren. Überdies ist der Kläger einer besonderen Gefahr der (Wieder-)Erkennung ausgesetzt, da die Taliban bei ihrer Eroberung Afghanistans auch zahlreiche Datensätze erbeutet haben, die zur Wiedererkennung auch des Klägers führen können. So haben die Taliban bei ihren Eroberungen u. a. biometrische Geräte des US-Militärs erbeutet. Diese Geräte sollten eigentlich den (ehemaligen) Sicherheitskräften dazu dienen, ihre vertrauenswürdigen Ortskräfte zu identifizieren. Biometrische Geräte galten in Afghanistan jahrelang als eine der wichtigsten Schutzmaßnahmen für ausländische Soldaten und Diplomaten. An Einfahrten und Gebäudeeingängen haben die handlichen biometrischen Scanner in der Vergangenheit vermeintliche Übersetzer und Fahrer als Taliban enttarnt. Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren sammelte das US-Militär zu diesem Zweck biometrische Daten von Ortskräften und anderen afghanischen Bürgerinnen und Bürgern. So entstand eine riesige Datenbank, die eine Identifizierung anhand der Iris, mittels Fingerabdrücken und durch Gesichtserkennung ermöglicht. Dadurch haben die Taliban jetzt potenziell Zugriff auf eine Datenbank mit Tausenden afghanischen Menschen, die mit ausländischen Militärs kooperiert haben (siehe dazu Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 18.08.2021, "Taliban erbeuten biometrische Geräte: Tickende Zeitbombe für Ortskräfte – welche Rolle spielt die Bundeswehr?"). [...]