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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 10.12.2021 - unbekannt - asyl.net: M30283
https://www.asyl.net/rsdb/m30283
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen im Iran aufgewachsenen afghanischen Staatsangehörigen:

1. Die humanitären Umstände in Afghanistan haben sich durch die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie noch einmal verschlechtert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK nur dann droht, wenn individuelle belastende Umstände hinzutreten.

2. Im vorliegenden Verfahren ist ein Abschiebungsverbot festzustellen, da der Antragsteller im Iran geboren und aufgewachsen ist und in Afghanistan über keinerlei unterstützungsfähige Strukturen verfügt.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Abschiebungsverbot, Änderung der Sachlage, Wiederaufgreifen,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, VwVfG § 51,
Auszüge:

[...]

In Betracht kommen dabei in erster Linie eine Verletzung der Art. 3 EMRK und die Prüfung, ob im Fall einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr liefe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Art. 3 EMRK verbietet aufenthaltsbeendende Maßnahmen, wenn im Zielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe droht. Diese Bedrohung kann sowohl von staatlichen Akteuren, als auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Allerdings muss nach der Rechtsprechung des EGMR die drohende Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen, die sich aus den Umständen des Einzelfalls und der aktuellen Staatenpraxis ergibt. Hier fordert der EGMR eine gewisse Flexibilität im Umgang mit außergewöhnlichen Fällen.

Nach dem Sachvortrag des Antragstellers droht ihm in Afghanistan keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung.

Der im Iran geborene und aufgewachsene und insoweit unverfolgt ausgereiste Antragsteller hat nicht vorgetragen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche bei Rückkehr befürchten zu müssen. Insbesondere geht das Bundesamt weiterhin davon aus, dass Hazara nicht generell allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten müssen.

Darüber hinaus kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Art. 3 EMRK ausnahmsweise auch dann in Betracht kommen, wenn der Antragsteller im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland auf so schlechte humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.

Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Afghanistan stellen sich folgt dar: [...]

Gleichwohl führen die dargestellten, schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen, die alle Bewohner Afghanistans gleichermaßen treffen, nicht bereits zu der Annahme, dass bei einem Aufenthalt jeder Person ohne das Hinzukommen besonderer, individueller Umstände eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliegen würde.

Denn die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse kann nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erfüllen (vgl. BVerG, U. v. 31.01.2013, 10 C 15/12, NVwZ 2013, 1167 ff.; VGHBW, U. v. 24.07.2013, A 11 S 697/13 m. w. N. insbesondere zur einschlägigen EGMR Rechtsprechung), nämlich dann, wenn zu den schlechten humanitären Bedingungen eine besondere individuelle Betroffenheit hinzukommt, die die Person im Unterschiede zur übrigen Bevölkerung unter diesen Umständen besonders verletzlich macht, indem eine sofortige Lebensbedrohung oder eine Unmöglichkeit der Wahrung der Menschenwürde eintritt.

Aufgrund der individuellen Umstände des Antragstellers ist im vorliegenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

Der vor wenigen Monaten volljährig gewordene Antragsteller ist in Iran geboren und aufgewachsen und hat zu keinem Zeitpunkt in Afghanistan gelebt. Die Familie hat vielmehr im Iran gelebt, wo sich auch noch die Mutter und zwei Geschwister aufhalten. Der Antragsteller hat dargelegt, dass er in Afghanistan über keine unterstützungsfähigen familiären Strukturen verfügt. Er ist als gerade volljährig gewordener junger Mann noch in seinen Familienverband integriert und hat bislang nach Aktenlage keine Arbeitserfahrung erworben.

Das Bundesamt geht unter Berücksichtigung dieser besonderen individuellen Umstände und der gegenwärtigen Lage in Afghanistan davon aus, dass es dem Antragsteller erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, auf sich allein gestellt in Afghanistan eine Existenz aufzubauen, sich auf dem umkämpften Arbeitsmarkt zu behaupten und ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, mit dem er die Finanzierung einer Unterkunft und von Lebensmitteln und Hygieneartikeln sicherstellen kann. [...]