VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 29.10.2021 - W 10 K 19.448 - asyl.net: M30280
https://www.asyl.net/rsdb/m30280
Leitsatz:

Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung nach Nigeria:

1. An der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Abschiebung besteht ein berechtigtes Interesse gemäß § 43 VwGO. Denn mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit kann auch die Frage der Tragung der Abschiebungskosten und ein Rückholungsanspruch verbunden sein.

2. Eine Person ist mindestens bis zum Ablauf einer angemessenen Zeit nach der Geburt eines gemeinsamen Kindes zu dulden, wenn der schwangeren Partnerin eine freiwillige Ausreise nicht möglich ist. In Fällen einer Risikoschwangerschaft besteht grundsätzlich ein zwingender Duldungsgrund für den Partner der schwangeren Person.

3. Auf eine fachärztliche Bescheinigung der Risikoschwangerschaft ist § 60 Abs. 2c AufenthG nicht entsprechend anzuwenden.

4. Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt, dass eine Abschiebung nicht die Möglichkeit abschneiden darf, effektiven Rechtsschutz gegen die Abschiebung in Anspruch zu nehmen. Indem dem Kläger nicht ermöglicht wurde, zum Zeitpunkt seiner Ingewahrsamnahme mit seiner Frau oder seinem Rechtsanwalt zu telefonieren, wurde ihm die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes genommen.

5. Ein Anspruch auf Rückgängigmachung der Abschiebung besteht nicht, da die Umstände, die zur Rechtswidrigkeit der Abschiebung geführt haben, nicht mehr bestehen, bzw. sich erledigt haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Risikoschwangerschaft, Schutz von Ehe und Familie, Duldung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Schwangerschaft, effektiver Rechtsschutz, Rechtsanwalt, Feststellungsklage, Rückholungsanspruch
Normen: VwGO § 43, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, EMRK Art. 8, AufenthG § 58 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 2c
Auszüge:

[...]

2.1 Die Klage ist als allgemeine Feststellungsklage nach $ 43 VwGO zulässig (vgl. BayVGH, B.v. 27.5.2021 - 19 CE 21.708 - juris). [...]

Für das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung ist entscheidend, ob zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Feststellung der Rechtswidrigkeit die Position des Klägers in rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Hinsicht verbessern kann. Dies ist zu bejahen, da mit einer Feststellung der Rechtswidrigkeit auch die Frage der Kostentragung der Abschiebung verbunden sein kann und gegebenenfalls ein Rückholungsanspruch im Raum steht.

2.2 Die Klage ist begründet, da die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 nach Nigeria rechtswidrig war. [...]

Die Abschiebung des Klägers am 10. April 2019 erfolgte in Vollstreckung der rechtskräftigen Verpflichtung zur Ausreise und der Abschiebungsandrohuung aus dem Bescheid des Bundesamtes vom 4. Oktober 2017, der durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 2. März 2018 - W 4 K 17.33540 - bestätigt wurde. Eine Überprüfung dieser Entscheidung findet deshalb nicht mehr statt. Anhaltspunkte für deren Nichtigkeit im Sinne des § 44 VwVfG bestehen nicht. Eine Ausreisefrist wurde nicht festgesetzt. Eine freiwillige Ausreise des Klägers erfolgt nicht. Der Kläger war vollziehbar ausreisepflichtig.

Die dem Kläger am 20. März 2019 für drei Wochen ausgestellte Duldung beseitigt - auch wenn die Duldung erst am 10. April 2019, 24.00 Uhr ablief (vgl. § 31 Abs. 2 VwVfG) - nicht die Ausreisepflicht. Unabhängig davon, dass eine Duldung eine bestehende Ausreisepflicht unberührt lässt, wurde die Duldung hier mit der Nebenbestimmung erteilt, dass sie mit Bekanntgabe des Abschiebetermins erlischt. Diese auflösende Bedingung ist am 10. April 2019 um 14.00 Uhr mit der Bekanntgabe der sofortigen Abschiebung eingetreten, so dass die Duldung zu diesem Zeitpunkt ihre Wirksamkeit verlor. [...]

2.2.3 Im maßgeblichen Zeitpunkt der erfolgten Abschiebung bestand für den Kläger jedoch ein Anspruch auf Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, weil dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erforderten.

2.2.3.1 Ein Anspruch auf Duldung ergab sich für den Kläger weder aus seiner ehelichen Beziehung zur Frau O. noch aus seiner Stellung als leiblicher Vater zu den Kindern ... und …, die sich zum Zeitpunkt der Abschiebung in ... aufhielten. [...]

2.2.3.2 Ein Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 3 AufenthG ergab sich für den Kläger aus der Tatsache, dass er hinreichende Hinweise auf eine Risikoschwangerschaft seiner Ehefrau zum Zeitpunkt seiner Abschiebung vorgelegt hatte.

Ein Duldungsanspruch ergibt sich für den Ausländer nämlich in den Fällen, in denen ihm die grundsätzliche Verpflichtung zur Ausreise und Einhaltung der Visavorschriften zumindest derzeit nicht zumutbar erscheint (BayVGH, B.v. 19.10.2006 - 24 CE 06.2757 -, juris). Eine solche Fallgestaltung war aufgrund der vorgetragenen Risikoschwangerschaft der Ehefrau des Klägers hier gegeben.

Ist der schwangeren Ehefrau des abzuschiebenden Ausländers - aus welchen Gründen auch immer - eine freiwillige Ausreise nicht möglich, so wird der Partner jedenfalls bis zum Ablauf einer angemessenen Zeit nach der Niederkunft zu dulden sein (Berlit, GK, BeckOnline, § 60a Rn. 223). Noch viel mehr ist in den Fällen einer Risikoschwangerschaft (mit möglichen späteren Geburtskomplikationen) ein zwingender Duldungsgrund zu bejahen, wenn nicht gewichtige Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegen einen auch nur vorübergehenden Verbleib streiten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 3.9.2012 - OVG 11 S 40.12 - juris; v. 18.11.2013 - OVG 7 S 92.13 – juris; OVG Niedersachsen, B.v. 26.2.2010 - 2B 511/09 - juris; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 8.9.2009 – 18 B 1156/09 - juris; OVG Sachsen, B.v. 25.1.2006 - 3 BS 274/05 - NVwZ 2006, 613 = InfAuslR 2006, 279; VGH Bayern, B.v. 19.10.2006 - 24 CE 06.2757 - juris; OVG Saarland, B.v. 26.2.2010 - 2B 511/09 - juris). Ein unmittelbares Abschiebungsverbot aus Art. 6 Abs. 1 oder 2 GG kann dann angenommen werden, wenn die Ehegatten und gegebenenfalls die Kinder - etwa wegen Krankheit oder Schwangerschaft des noch nicht ausreisepflichtigen Ausländers – in besonderem Maße aufeinander angewiesen sind (vgl. auch EGMR, U.v. 20.3.1991 - Nr. 46/1990/2371307 - InfAuslR 1991, 217 = EuGRZ 1991, 203).

Gemessen an diesen Vorgaben hat der Beklagte sein in § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG eingeräumtes Ermessen, dem Kläger eine vorübergehende Duldung zu erteilen, nicht rechtmäßig ausgeübt. [...]

In der fachärztlichen Bescheinigung der Gynäkologin der Frau O. vom ... 2019 wird ausgeführt, dass bei der Ehefrau des Klägers eine Risikoschwangerschaft vorliege und für den weiteren Verlauf der Schwangerschaft die Anwesenheit des Klägers als Kindsvater wünschenswert sei, um eine Entlastung der Frau O. im Familienalltag mit zwei kleinen Kindern zu ermöglichen. [...] Die fachärztliche Bescheinigung vom ... 2019 erfüllt zwar nicht die Voraussetzungen für eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung im Sinne von § 60a Abs. 2c AufenthG. Allerdings ist diese Norm nach dem eindeutigen Wortlaut direkt nur auf Abschiebungshindernisse anwendbar, die auf dem Gesundheitszustand des abzuschiebenden Ausländers selbst beruhen. Wegen der Grundrechtsrelevanz scheidet eine analoge Anwendung aus § 60a Abs. 2c AufenthG aus. § 60a Abs. 2c AufenthG ist daher in der vorliegenden Konstellation nicht anwendbar. [...]

2.2.3.3 Darüber hinaus ergibt sich die Rechtswidrigkeit der Abschiebung aus den konkreten Umständen der Durchführung der Direktabschiebung.

Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz folgt, dass eine Direktabschiebung dem ausreisepflichtigen Ausländer nicht die Möglichkeit abschneiden darf, effektiven Rechtsschutz gegen seine Abschiebung in Anspruch zu nehmen und eine richterliche Entscheidung vor Durchführung der Abschiebung zu erhalten; d.h. der gesetzlich eröffnete Rechtsweg darf nicht unzumutbar beschränkt und die Inanspruchnahme der Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Gestaltung des behördlichen Vorgehens nicht in unzumutbarer Art und Weise behindert oder gar verhindert werden. Eine Verwaltungsvollstreckung darf daher nicht so ausgestaltet werden, dass der Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz für den betroffenen überhaupt nicht ermöglicht wird.

Trotz gerichtlicher Aufforderung an den Beklagten zu Stellungnahme blieb der Vortrag des Klägers unwidersprochen, dass ihm nach der Mitteilung am 10. April 2019 um 14:00 Uhr, dass er nun unmittelbar abgeschoben werde, trotz seiner Bitte, seine Frau oder seinen Rechtsanwalt anrufen zu dürfen, ihm dies nicht gestattet worden sei. Das Gericht muss daher davon ausgehen, dass der Vortrag des Klägers der Wahrheit entspricht.

Dadurch, dass dem Kläger nicht erlaubt wurde, zum Zeitpunkt seiner Ingewahrsamnahme mit seinem Rechtsanwalt oder seiner Frau zu telefonieren, ist ihm die Möglichkeit genommen worden, effektiven Rechtsschutz über die Beantragung einer einstweiligen Anordnung zu erreichen. Ein entsprechender Antrag konnte aufgrund dessen erst am 11. April 2019 beim Verwaltungsgericht gestellt werden (W 10 E 19.373). Dieser Antrag konnte allein wegen der bereits vollzogenen Abschiebung keinen Erfolg haben. Im Einstellungsbeschluss vom 13. Mai 2019 - W 10 E 19.373 - wird die Kostenlast des Eilverfahrens dem Antragsgegner auferlegt und zur Begründung ausgeführt, dass dem Bevollmächtigten bei Stellung des Eilantrags nicht bekannt gewesen sein konnte, dass die Abschiebung des Klägers bereits vollzogen war. [...]

Danach war die Abschiebung des Klägers nach den besonderen Umständen unverhältnismäßig und mit dem Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, nicht vereinbar. [...]

Gemessen an diesen Vorgaben setzt ein Rückführungsanspruch des Klägers voraus, dass sein Aufenthalt in Nigeria als Folge einer rechtswidrigen Abschiebung noch rechtswidrig andauert und der Beklagte daher verpflichtet wäre, ihm erneut einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen. Dies ist aber nicht der Fall, da der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig gewesen ist, die Risikoschwangerschaft der Ehefrau O. des Klägers, die die Rechtswidrigkeit der Abschiebung begründet hat, nicht mehr andauert und auch die Verhinderung effektiven Rechtsschutzes sich durch Zeitablauf in diesem besonderen Fall erledigt hat.

Hinsichtlich der erstmaligen Herstellung des Zusammenlebens mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in der Bundesrepublik Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt ist der Kläger auf die Möglichkeit des Familiennachzugs (§ 29 AufenthG) zu verweisen. [...]