VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 10.12.2021 - 23 L 727/21.A - asyl.net: M30269
https://www.asyl.net/rsdb/m30269
Leitsatz:

Eilrechtsschutz im Dublin-Verfahren bei Zweifeln der Zuständigkeit des Wiederaufnahmestaates und mangelhafter Anhörung:

1. Ergeben sich im Dublin-Verfahren Hinweise auf die Zuständigkeit verschiedener Mitgliedsstaaten, muss die betroffene Person im persönlichen Gespräch die Möglichkeit zur Stellungnahme zu einer möglichen Abschiebung in all diese Staaten haben.

2. Lediglich die Zustimmungserklärung eines Mitgliedstaats reicht für die Zuständigkeitsbegründung nach der Dublin-III-Verordnung nicht aus, wenn diese nicht mit hinreichender Sicherheit feststeht und Indizien gegen die Zuständigkeit des Mitgliedsstaates sprechen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, persönliches Gespräch, Zuständigkeit, Rechtswidrigkeit, Wiederaufnahme,
Normen: VO 604/2013 Art. 4, VO 604/2013 Art. 18, VO 604/2013 Art. 12, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, AsylG § 34a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Vorliegend ist zwar ein persönliches Gespräch (Bl. 79 ff. der Asylakte) ebenso erfolgt wie eine Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags (Bl. 98 ff. der Asylakte). Aufgrund ihres konkreten Inhaltes werden beide jedoch nicht den dargestellten Anforderungen gerecht. Der Antragsteller wurde (nur) darüber informiert, dass aufgrund seiner ungarischen Aufenthaltserlaubnis bzw. aufgrund des ihm von Ungarn erteilten Studentenvisums eine Zuständigkeit Ungarns für das Asylverfahren in Betracht komme. Außerdem komme aufgrund des später in den Niederlanden gestellten Asylantrages auch eine Zuständigkeit der Niederlande in Betracht. Eine mögliche Zuständigkeit Tschechiens wurde nicht angesprochen. Daran anknüpfend wurde dem Antragsteller ausdrücklich die Gelegenheit gegeben, "alle Tatsachen und Umstände anzugeben, die einer Abschiebung in die Niederlande oder nach Ungarn entgegenstehen". Vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller seinen Reiseweg mit "Syrien - Ungarn - Tschechien - Holland - Deutschland" angegeben und das Bundesamt somit Kenntnis von einem Aufenthalt in Tschechien hatte, hatte der Antragsteller angesichts der konkret benannten möglichen Zielstaaten Ungarn und Niederlande keinen Anlass, von sich aus Gründe vorzutragen, die gegen seine Abschiebung nach Tschechien sprechen könnten. Aufgrund dieses konkreten Gesprächsverlaufs hätte das Bundesamt den Antragsteller vor Erlass des Bescheides informieren müssen, dass auch eine Zuständigkeit Tschechiens und eine Abschiebung dorthin in Betracht kommt und ihm insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen.

Unabhängig von dem Ausgeführten bestehen auch in materieller Hinsicht durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung nach Tschechien.

Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 a AsylG. Danach ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Abschiebung eines Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 - Dublin III-VO), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Vorliegend lässt sich schon eine Zuständigkeit Tschechiens nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen. Zwar haben die aufgrund eines EURODAC-Treffers vom Bundesamt angeschriebenen niederländischen Behörden ihre eigene Zuständigkeit verneint und auf Tschechien verwiesen. Tschechien wiederum hat dem Aufnahmeersuchen nach Art. 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-VO zugestimmt. Die Mitteilung der niederländischen Behörden, Tschechiens Zuständigkeit folge aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO legt nahe, dass Hintergrund ein tschechischer Aufenthaltstitel sein dürfte. Ob dies der Fall ist und ob die Zustimmung Tschechiens zurecht erfolgt ist, kann das Gericht jedoch nicht ansatzweise prüfen. Hierzu gibt es aber durchaus Anlass, weil der Antragsteller selbst meint, sein Asylantrag sei in den Niederlanden aufgrund seines (allein aktenkundigen) Visums für Ungarn abgelehnt worden. Auch auf Nachfrage hat das Bundesamt den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt. Dass allein der Hinweis der Niederlande und die von Tschechien erklärte Zustimmung für die Durchführung des Dublin-Verfahrens ausreichen würden, überzeugt das Gericht jedenfalls im hier vorliegenden Aufnahmeverfahren (Art. 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-VO) nicht. [...]