VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Gerichtsbescheid vom 05.11.2021 - 11 K 2208/21.A - asyl.net: M30252
https://www.asyl.net/rsdb/m30252
Leitsatz:

Erfolgreiche Untätigkeitsklage einer in Griechenland schutzberechtigten Person:

1. Es ist nicht ausreichend, wenn das BAMF die verzögerte Entscheidung über einen Asylantrag pauschal mit Schwierigkeiten der Sachaufklärung begründet.

2. Insbesondere reicht ein Verweis auf die Dynamik der Lage in Griechenland sowie die Covid-19-Pandemie nicht aus, da im Einklang mit der Rechtsprechung mehrerer Oberverwaltungsgerichte davon ausgegangen werden kann, dass international Schutzberechtigten in Griechenland schon unabhängig von den Auswirkungen der Pandemie eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht. 

(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis u.a. auf die Rechtsprechung des OVG NRW zu in Griechenland anerkannten Personen, siehe OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A (Asylmagazin 3/2021, S. 92 f.); Parallelverfahren: 11 A 2982/20.A - asyl.net: M29253)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Untätigkeitsklage, Verfahrensverzögerung, Beschleunigungsgebot, Asylverfahrensrichtlinie, Zusicherung, zureichender Grund,
Normen: VwGO § 75 S. 3, AsylG § 24 Abs. 4, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist als Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Fall 2 VwGO in Gestalt der Untätigkeitsklage (§ 75 Satz 1 VwGO) zulässig.

Gemäß § 75 Satz 1 VwGO kann bereits vor der Entscheidung über den Asylantrag Klage erhoben werden, wenn das Bundesamt über diesen ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat. Eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers ist bislang nicht erfolgt.

Die Klage ist auch nach Ablauf von drei Monaten seit der Asylantragstellung erhoben worden, § 75 Satz 2 VwGO. Der Kläger hat im vorliegenden Fall bereits am 17. August 2020 einen Asylantrag gestellt, während die Klage auf Bescheidung dieses Antrags erst am 24. September 2021 erhoben wurde. Selbst seit der Aufhebung der durch den Bescheid vom 7. Oktober 2020 getroffenen Unzulässigkeitsentscheidung durch den Gerichtsbescheid vom 2. Juni 2021 waren zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits mehr als drei Monate vergangen.

Es ist entgegen des durch die Beklagten gestellten Antrags nicht geboten, das Verfahren nach § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen, da kein zureichender Grund dafür ersichtlich ist, dass über den Asylantrag des Klägers noch nicht entschieden wurde. Ob ein zureichender Grund für die Verzögerung vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Dabei sind im jeweiligen Einzelfall sowohl die für die Bearbeitungsdauer bedingenden Umstände als auch eine etwaige besondere Dringlichkeit einer Angelegenheit für den Kläger zu berücksichtigen und in einen angemessenen Ausgleich zu bringen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 16). Hinsichtlich des hier vorliegenden Asylverfahrens ist § 24 Abs. 4 AsylG zu entnehmen, dass die Entscheidung über den Asylantrag grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten ergehen soll, auch wenn hierdurch keine Verpflichtung zur Entscheidung über einen Asylantrag innerhalb von sechs Monaten ergehen soll (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 11. Juni 2019 - 7 K 1832/18 -, juris Rn. 16). Unter Berücksichtigung von Art. 31 Abs. 3 Satz 3 lit. a) und lit. b) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) können die Bearbeitungsfristen in Asylverfahren bei komplexen Fragestellungen tatsächlicher oder rechtlicher Art sowie bei einer großen Anzahl gleichzeitiger Antragstellungen um neun weitere Monate verlängert werden. Ausnahmsweise können die Mitgliedstaaten die Fristen in ausreichend begründeten Fällen zudem um höchstens drei weitere Monate überschreiten, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zu gewährleisten (Art. 31 Abs. 3 Satz 4 der Asylverfahrensrichtlinie).

Hiervon ausgehend ist vorliegend kein zureichender Grund für die bislang noch nicht erfolgte Entscheidung über den Asylantrag des Klägers erkennbar. Die Asylantragstellung liegt zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits mehr als ein Jahr zurück, ohne dass eine rechtskräftige Entscheidung über den Asylantrag ergangen wäre. Auch seit der Aufhebung der mit Bescheid vom 7. Oktober 2020 getroffenen Unzulässigkeitsentscheidung sind mittlerweile mehr als vier Monate vergangen. Die Beklagte hat in ihrer Klageerwiderung demgegenüber lediglich in relativ pauschaler Form auf Schwierigkeiten der Sachaufklärung verwiesen, ohne dass näher darauf eingegangen wird, woraus sich genau die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung bezüglich der Situation von nach Griechenland zurückkehrenden international Schutzberechtigten konkret ergeben sollte. Der bloße Verweis auf die Dynamik von Versorgungssituation und Arbeitsmarktlage auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie reicht schon deshalb nicht aus, um einen zureichenden Grund für die bislang nicht erfolgte Bescheidung anzunehmen, weil die Kammer in ihrer ständigen Rechtsprechung - im Einklang mit der neueren Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte - schon unabhängig von den Auswirkungen der Corona-Pandemie davon ausgeht, dass die Lebensbedingungen für nach Griechenland zurückkehrende international Schutzberechtigte den Vorgaben aus Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrCh) beziehungsweise aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht genügt (vgl. mit ausführlicher Begründung das Urteil der Kammer vom 3. Februar 2021 - VG 11 K 3355/17.A -; im Ergebnis so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris Rn. 30 ff.; OVG Lüneburg, Urteil vom 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 27 ff.). Aus dem Verwaltungsvorgang ergeben sich auch keine Anhaltspunkte für eine im konkreten Fall des Klägers veranlasste weitere Sachaufklärung, die Beklagte hat eine diesbezügliche Notwendigkeit auch nicht vorgetragen. Außerdem ist, anders als noch vor einigen Jahren, selbst unter Berücksichtigung der von der Beklagten ins Feld geführten pandemiebedingt erschwerten Arbeitsbedingungen nicht mehr von einer derart hohen Arbeitsbelastung des Bundesamts auszugehen, dass es gerechtfertigt erschiene, den bereits vor deutlich über einem Jahr gestellten Asylantrag des Klägers nicht abschließend zu bearbeiten (vgl. VG Leipzig, Urteil vom 11. Juni 2019 - 7 K 1832/18 -, juris Rn. 16). [...]