OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.10.2021 - 4 MB 49/21 - asyl.net: M30217
https://www.asyl.net/rsdb/m30217
Leitsatz:

Überwiegende Lebensunterhaltssicherung bei § 25b AufenthG bezieht sich bei AsylbLG-Leistungsbezug nur auf antragstellende Person:

1. Werden Leistungen nach dem AsylbLG bezogen, setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG nicht voraus, dass der Lebensunterhalt einer ganzen Familie überwiegend gesichert ist, sondern nur, dass der Lebensunterhalt der antragstellenden Person überwiegend gesichert ist. Denn beim Bezug von Leistungen nach AsylbLG handelt es sich nicht um eine Bedarfsgemeinschaft nach SGB II, sondern um eine Einsatzgemeinschaft nach SGB XII.

2. Eine Identitätstäuschung in der Vergangenheit schließt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht aus, kann aber bei einem weiter bestehenden Ausweisungsinteresse die Annahme eines atypischen Falles rechtfertigen, sodass die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ausnahmsweise im Ermessen der Behörde steht. Denn die Erteilung steht bei § 25b Abs. 1 AufenthG in atypischen Fällen im Ermessen der Behörde (sog. Soll-Vorschrift)

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 16.11.2010 - 1 C 21.09 - bverwg.de)

Schlagwörter: Bleiberecht, Altfallregelung, Integration, Sicherung des Lebensunterhalts, Familienangehörige, familiäre Lebensgemeinschaft, Bedarfsgemeinschaft, Einsatzgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AufenthG § 2 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, SGB. II § 7 Abs. 3, SGB II § 9 Abs. 1, AsylbLG § 2 Abs. 1, SGB XII § 27 Abs. 2, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

9 b. Vom Verwaltungsgericht offengelassen, aber zwischen den Beteiligten streitig sind die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG. Danach ist regelmäßig zu verlangen, dass der Ausländer seinen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit sichert oder dass bei der Betrachtung der bisherigen Schul-, Ausbildungs-, Einkommens- sowie der familiären Lebenssituation zu erwarten ist, dass er seinen Lebensunterhalt im Sinne von § 2 Abs. 3 sichern wird, wobei der Bezug von Wohngeld unschädlich ist. Um der vom Gesetzgeber in der ersten Alternative gewollten Privilegierung gegenüber den Voraussetzungen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG Rechnung zu tragen, genügt es, wenn durch Erwerbstätigkeit ein Einkommen erwirtschaftet wird, das (unter Berücksichtigung der Maßgaben des § 2 Abs. 3 AufenthG) einen gegebenenfalls hinzutretenden Sozialleistungsanspruch in der Höhe übersteigt. [...]

10 Für die Antragstellerin zu 2 lässt sich feststellen, dass ihr Lebensunterhalt mit der erforderlichen Stabilität gesichert ist. Ausweislich der zuletzt vorgelegten Entgeltabrechnung von September 2021 arbeitet sie seit Mai 2019 Vollzeit in einem Hotel und erwirtschaftet ein monatliches Einkommen i.H.v. 1.331,57 Euro netto. Damit ist ihr Lebensunterhalt mehr als gedeckt. Das Sozialzentrum errechnete für die Antragstellerin zu 2 in seinem Folgebescheid vom 22. Juli 2021 einen Gesamtbedarf von 524,33 Euro. Da es in der ersten Alternative des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG – überwiegende Sicherung des Lebensunterhalts durch Erwerbstätigkeit – lediglich auf den gegenwärtigen Stand der Integration ankommt, bedarf es in dem Fall, in welchem der Lebensunterhalt überwiegend gesichert ist, keiner zukunftsgerichteten Prognose für die Zeit nach Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis, wie sie in der zweiten Alternative des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG anzustellen ist (VGH Mannheim, a.a.O. Rn. 98; BVerwG, a.a.O. Rn. 52).

11 Dass die übrigen Familienmitglieder, die Antragsteller zu 1 und 3 bis 6, unter Anrechnung des überschüssigen Einkommens der Antragstellerin zu 2 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, ändert daran nichts. Denn die Familie lebt entgegen der Annahme des Antragsgegners nicht in einer Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II, bei der der Lebensunterhalt der Antragstellerin zu 2 deshalb nicht gesichert wäre, weil der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft, deren Mitglied sie ist, nicht durch eigene Mittel bestritten werden kann.

12 Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass es für die Prüfung der Sicherung des Lebensunterhaltes i.S.d. § 2 Abs. 3 AufenthG eines erwerbsfähigen Ausländers zugleich auf die Sicherung des Lebensunterhalts der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 SGB II lebenden Mitglieder der Kernfamilie ankommt. In diesem Fall sei der Einkommens- und Bedarfsberechnung grundsätzlich der Personenkreis zugrunde zu legen, der sich aus den Regeln über die Bedarfsgemeinschaft ergebe, unabhängig davon, inwieweit zwischen diesen Personen unterhaltsrechtliche Beziehungen bestünden. Innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft, deren gesamter Bedarf nicht aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt werde, gelte jede Person im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig (§ 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II) und habe im Regelfall einen Leistungsanspruch in Höhe dieses Anteils. Habe der Ausländer ein Einkommen, das seinen Bedarf decke, so sei er gleichwohl bedürftig, da sein Einkommen auf die anderen Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft aufgeteilt werde (horizontale Verteilung des Einkommens). Das führe regelmäßig dazu, dass der Lebensunterhalt des Ausländers dann nicht gesichert sei, wenn der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft, deren Mitglied er sei, nicht durch eigene Mittel bestritten werden könne [...].

13 Diese vom Antragsgegner offenbar zugrunde gelegte Rechtsprechung findet vorliegend allerdings keine Anwendung, da die Antragsteller als geduldete Ausländer dem AsylbLG unterfallen (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) und ihre sozialrechtlichen Bezüge nach dem letzten Bescheid des Sozialzentrums nicht auf dem SGB II, sondern gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG auf dem SGB XII beruhen. Die Leistungen des SGB II und des AsylbLG wiederum stehen gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II in einem Ausschließlichkeitsverhältnis (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 18.12.2013 - S3 A 205/12 -, juris Rn. 40). Die Antragsteller leben demnach nicht in einer Bedarfsgemeinschaft, sondern in einer sogenannten Einsatzgemeinschaft nach § 2 Abs. 1 AsylbLG, § 27 Abs. 2 SGB XII. [...]

17 Dem sicherungsfähigen Anordnungsanspruch steht vorliegend weder die vom Verwaltungsgericht getroffene Annahme eines atypischen Falls des § 25b Abs. 1 AufenthG noch ein Ausweisungsinteresse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, weil insoweit jedenfalls noch eine Ermessensentscheidung des Antragsgegners zu treffen ist.

18 Das Verwaltungsgericht hat insoweit auf ein früheres Fehlverhalten des Antragstellers zu 1 und der Antragstellerin zu 2 abgestellt: Unstreitig täuschten sie bei ihrer Einreise (Ende 2005 bzw. Anfang 2007) und in der Folgezeit über mehrere Jahre hinweg über ihre Identität und Staatsangehörigkeit. Ihre wahren Identitäten offenbarten sie erst im Juni 2014. Im Oktober 2015 beantragten sie die hier in Rede stehenden Aufenthaltserlaubnis. [...]

19 Die Beschwerde weist demgegenüber darauf hin, dass die Richtigstellung der Identitäten bereits im Jahre 2014 erfolgt sei. Seitdem hätten der Antragsteller zu 1 und die Antragstellerin zu 2 die für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erforderliche Voraufenthaltszeit erfüllt. Auch ein Ausweisungsinteresse könne hierauf heute nicht mehr gestützt werden, da es durch Zeitablauf an Bedeutung verloren habe. Zu einer strafrechtlichen Anzeige oder gar Verurteilung sei es wegen der Täuschungshandlungen nicht gekommen. Mangels Ausweisungsinteresse fehle es auch an einer Grundlage, einen atypischen Fall anzunehmen.

20 Dieses Vorbringen genügt, um die Richtigkeit der ablehnenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidung in Frage zu stellen.

21 a. Das Verwaltungsgericht führt zutreffend aus, dass die bis Juni 2014 aufrechterhaltene Täuschung heute nicht zu einem Versagungsgrund nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG führt. Erforderlich wäre insoweit, dass die Täuschungshandlung noch aktuell eine Aufenthaltsbeendigung verhindert oder verzögert [...] Dies ist sieben Jahre nach Offenlegung der wahren Identitäten offensichtlich nicht der Fall.

22 Richtig ist auch, dass in diesem früheren Fehlverhalten ein Ausweisungsinteresse i.S. des neben § 25b AufenthG anwendbaren § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG oder ein atypischer Ausnahmefall vom "Soll"-Anspruch nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen kann (OVG B-Stadt, a.a.O. Rn. 40, 42 ff.; BVerwG, a.a.O. Rn. 56 ff.).

23 b. Ein Ausweisungsinteresse dürfte entgegen der Annahme der Beschwerde noch vorliegen. Fehlt es – wie hier insoweit anzunehmen ist – an einer Wiederholungsgefahr, kommt i.R.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur ein Ausweisungsinteresse aus generalpräventiven Gründen in Betracht, um andere Ausländer durch eine ausländerrechtliche Reaktion davon abzuhalten, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, Urt. v. 12.07.2018 - 1 C 16.17 -, BVerwGE 162, 349 ff., juris Rn. 16 ff.). Zutreffend weist die Beschwerde zwar darauf hin, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt – auch bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – nicht mehr herangezogen werden kann. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, hält das Bundesverwaltungsgericht eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung für angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. [...]

24 Bei einer in Rede stehenden Straftat gemäß § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, §§ 271, 276, 276a StGB, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bedroht ist, beträgt die einfache Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB allerdings nicht drei, sondern fünf Jahre und die absolute Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB folglich nicht sechs, sondern zehn Jahre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind seit der Offenbarung und Beendigung der strafbaren Täuschungshandlung gut sieben Jahre vergangen, die bezeichnete Obergrenze ist also noch nicht erreicht.

25 Bei einem derartigen Sachstand nimmt das Bundesverwaltungsgericht die Fortdauer der Aktualität des Ausweisungsinteresses "bis in den oberen Bereich des zugrunde gelegten Fristenregimes" an. [...]

26 Schließt man sich dieser Rechtsprechung an, käme auch vorliegend noch ein hinreichend aktuelles Ausweisungsinteresse in Betracht. Dessen ungeachtet stünde es dann allerdings gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG immer noch im Ermessen der Ausländerbehörde, vom Erfordernis des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, da es sich bei der begehrten Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG um einen Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 handelt (vgl. OVG B-Stadt, Beschl. v. 19.05.2017 - 1 Bs 207/16 -, juris Rn. 41). Bei der Ermessensausübung sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu würdigen und angemessenen zu berücksichtigen. Dabei hat die Ausländerbehörde die Gründe, auf denen das Nichtvorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen beruht, zu berücksichtigen; allerdings hat sie auch das private Interesse des Ausländers an der Legalisierung des Aufenthalts zu gewichten und gegeneinander abzuwägen (BVerwG, Urt. v. 14.05.2013 - 1 C 17.12 -, juris Rn. 22). [...]

28 Allerdings kann auch diese Frage hier im vorläufigen Rechtsschutzverfahren offenbleiben, weil die in § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG regelmäßig vorgegebene positive Entscheidung über die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis bei Annahme eines atypischen Falls zu einer Ermessensentscheidung herabzustufen ist (OVG B-Stadt, a.a.O. Rn. 30, 42 ff.; BVerwG, a.a.O. Rn. 56 ff.). Ein solches Ermessen hat der Antragsgegner noch nicht ausgeübt, da er bislang schon die Integrationsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG verneint hat. [...]