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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 24.06.2021 - B 7 AY 4/20 R - asyl.net: M30201
https://www.asyl.net/rsdb/m30201
Leitsatz:

Die Inanspruchnahme offenen Kirchenasyls ist nicht rechtsmissbräuchlich:

Nach § 2 Abs. 1 S. 1 AsylbLG erhalten Personen Analogleistungen nach dem SGB XII, wenn sie sich seit 15 Monaten im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Die Inanspruchnahme von offenem Kirchenasyl ist nicht rechtsmissbräuchlich in diesem Sinne und führt somit nicht zum Ausschluss von Analogleistungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialrecht, Kirchenasyl, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Analogleistungen, BSG,
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

9 Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Klägerin hat für Juni 2018 Anspruch auf höhere Leistungen. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Analogleistungen sind erfüllt. Insbesondere eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt nicht vor. [...]

14 Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3, 4, 6 und 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 15 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach § 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen - gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch Ausländern - zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin. Sie konnte im streitgegenständlichen Zeitraum ihren Lebensunterhalt nicht aus Einkommen oder Vermögen bestreiten und war als Inhaberin einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz <AsylG>) Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG). Sie hielt sich seit Juli 2016 und damit mehr als 15 Monate ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf. Soweit sie sich 2017 zeitweise im offenen Kirchenasyl befand, um eine Überstellung nach Italien abzuwenden, führt dies nicht zu einer rechtsmissbräuchlichen Verlängerung der Dauer ihres Aufenthalts.

15 Der Begriff des Rechtsmissbrauchs i.S. von § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG wird im AsylbLG auch nach dessen umfassender Neugestaltung mit Wirkung vom 1.3.2015 mit dem Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10.12.2014 (BGBl I 2187) und den folgenden Änderungen an keiner Stelle definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 2 AsylbLG in der bis zum 28.2.2015 geltenden Fassung (vgl. § 2 Abs. 1 in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.8.2007, BGBl I 1970) beinhaltet er als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive - den Missbrauchstatbestand - und eine subjektive Komponente - das Verschulden. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes vom 19.8.2007 für den Ausländer (und nach der damaligen Fassung auch für seine Kinder) so schwer, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (vgl. BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2, RdNr. 32 f).

16 An dieser Rechtsprechung zu den Anforderungen an den objektiven Missbrauchstatbestand hält der Senat auch für § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in den seit dem 1.3.2015 geltenden, insoweit unverändert gebliebenen Fassungen fest. Die Folgen einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer sind vom Gesetzgeber zwar zum 1.3.2015 erheblich vermindert worden, indem die Leistungssätze der Grundleistungen nach dem AsylbLG angepasst worden sind und dabei methodisch auf die nach § 28 SGB XII vorgesehene Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) zurückgegriffen worden ist. Damit wird im Grundsatz dieselbe Datengrundlage wie für Leistungen nach dem SGB XII verwandt (zum Ganzen BT-Drucks. 18/2592 S 20 ff). Zudem hat das rechtsmissbräuchliche Verhalten der Eltern für die Ansprüche minderjähriger Kinder keine Auswirkungen mehr (vgl. § 2 Abs. 3 AsylbLG), was vorliegend allerdings ohne Belang ist. Die im Hinblick auf diese Änderungen im Gesamtkonzept des AsylbLG abweichende Auslegung eines "Rechtsmissbrauchs" durch das LSG wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aber nicht gerecht (anders Adolph, SGB II/SGB XII/AsylbLG, § 2 AsylbLG RdNr. 39c, Stand 1.5.2021; anders wohl auch Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 2 RdNr. 37 f).

17 Nach dem (auch insoweit unveränderten) Wortlaut des Gesetzes kann (weiterhin) weder durch Zeitablauf noch durch späteres Wohlverhalten des Ausländers bewirkt werden, dass Analogleistungen zu gewähren sind (vgl. auch BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 11/07 R - RdNr. 14; zu Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsfolge Oppermann/Filges in jurisPK-SGB XII, § 2 AsylbLG RdNr. 118, Stand: 5.1.2021; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 2 AsylbLG RdNr. 31). Damit ist der Ausländer durch die Beschränkung auf Grundleistungen im Grundsatz dauerhaft von einer mit der Zahlung von Analogleistungen beabsichtigten, stärkeren Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse im Inland und besseren sozialen Integration ausgeschlossen (zu Sinn und Zweck von § 2 AsylbLG im Einzelnen BSG vom 24.6.2021 - B 7 AY 1/20 R - RdNr. 15, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Weitreichende Konsequenzen hat der dauerhafte Verweis auf Grundleistungen vor allem wegen der Absicherung im Krankheitsfall, die im Grundsatz auf die Behandlungen von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen beschränkt ist (vgl. § 4 Abs. 1 AsylbLG). Im Fall eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ist die betroffene Personengruppe trotz eines langfristigen Aufenthalts dauerhaft von einer mit der durch die Gewährung von Analogleistungen verbundenen Einbeziehung in die Quasiversicherung (vgl. § 264 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Krankenversicherung - <SGB V>) ausgeschlossen. Das wiegt insbesondere für Personen schwer, die - wie es die Klägerin geltend macht - an einer chronischen Erkrankung leiden. Belässt es der Gesetzgeber bei Unterschieden im Leistungsniveau gekoppelt an ein vorwerfbares Fehlverhalten, wäre zu erwarten gewesen, dass im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eine Abkehr von dem in der Rechtsprechung zum Begriff und den Folgen des Rechtsmissbrauchs entwickelten Maßstab deutlich wird, wenn dies zugleich beabsichtigt gewesen wäre. Dies wird aber an keiner Stelle im Gesetzgebungsverfahren erkennbar.

18 Ausgehend von dem damit zugrunde zu legenden Maßstab ist die Inanspruchnahme offenen Kirchenasyls nicht rechtsmissbräuchlich (im Ergebnis ebenso Hessisches LSG vom 4.6.2020 - L 4 AY 5/20 B ER - ZFSH/SGB 2020, 468; LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 13.9.2020 - L 9 AY 9/20 B ER - ZFSH/SGB 2021, 34; differenzierend LSG Niedersachsen-Bremen vom 27.4.2020 - L 8 AY 20/19 B ER - RdNr. 16 ff; anders Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 2 RdNr. 41; Heusch in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, RdNr. 709; Deibel in Hohm, Gemeinschaftskommentar AsylbLG, § 2 RdNr. 111 f, Stand 12/2020; Deibel, ZFSH/SGB 2017, 583, 590; Birk in Bieritz-Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 12. Aufl. 2020, § 2 AsylbLG RdNr. 4). Zwar war die Klägerin vollziehbar ausreisepflichtig und ist ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen, der Staat akzeptiert aber faktisch und generalisierend während eines offenen Kirchenasyls auf Grundlage der mit den Kirchen getroffenen Absprachen den weiteren Aufenthalt im Inland. Die Klägerin hat sich durch ihren Aufenthalt nicht etwa der Überstellung entzogen und sie so vereitelt. Der Staat ist durch das offene Kirchenasyl weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Er verzichtet aufgrund einer rechtlich nicht verbindlichen Verfahrensabsprache mit den Kirchen in Einzelfällen (in Abhängigkeit von Entscheidungen der jeweiligen Kirchengemeinden) darauf, das Recht durchzusetzen, die betroffenen Personen zu überstellen (vgl. dazu BT-Drucks. 19/2349 S 1; BT-Drucks. 18/9894 S 2). Die staatliche Respektierung des Kirchenasyls begründet also kein Vollstreckungshindernis, das die Behörden an der Überstellung hindert, weshalb eine im offenen Kirchenasyl befindliche Person auch nicht "flüchtig" i.S. des Art 29 Abs. 2 Satz 2 2. Alt nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 26.1.2021 - 1 C 42/20 - NVwZ 2021, 875 = Asylmagazin 2021, 290, RdNr. 26).

19 Verzichtet der Staat aber in Folge einer politischen Grundentscheidung - in Bayern einer Entscheidung des Innenministers - aus Respekt vor den Kirchen auf die Durchsetzung der Überstellung bei Aufenthalt im Kirchenasyl, stellt die Wahrnehmung eines solchen Angebots kein unredliches, sozialwidriges Verhalten der betroffenen Person dar. Es wäre vielmehr widersprüchlich, wenn der Staat einerseits das Tätigwerden der Kirchen respektiert und dazu Verfahrensabsprachen trifft, den Betroffenen im Anschluss an das Kirchenasyl aber andererseits dauerhaft von höheren Leistungen ausschließt. Der Fall stellt sich wertungsmäßig deshalb so dar wie die Konstellation eines ausreisepflichtigen Ausländers, dem die Ausreise möglich und zumutbar ist, der aber geduldet wird (dazu BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R - BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2). Zwar geschieht dies beim Kirchenasyl nur faktisch und nicht wie bei der förmlichen Duldung durch Verwaltungsakt. Entscheidend ist aber, dass der Staat trotz und gerade wegen des Verhaltens des Ausländers bewusst keine Überstellungsmaßnahmen einleitet (ähnlich Schleswig-Holsteinisches LSG vom 15.7.2020 - L 9 AY 79/20 B ER - RdNr. 34). Unerheblich ist dabei, ob das BAMF im vorliegenden Einzelfall ein Härtefalldossier erhalten und daraufhin zugesagt hatte, eine Härtefallprüfung tatsächlich durchzuführen (vgl. BT-Drucks. 18/9894 S 2 ff zu den Vereinbarungen über das Verfahren zwischen BAMF und den Kirchen, die bis 2018 Anwendung fanden). Welche Gründe das BAMF hier ggf. in Abkehr von den Vereinbarungen bewogen haben, von der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht abzusehen, ist aus Sicht des Betroffenen unerheblich. Erst wenn im Einzelfall deutlich gemacht würde, dass die Aufnahme in einer Kirchengemeinde abweichend von der allgemeinen Vorgehensweise nicht (mehr) respektiert wird, kann anderes gelten. Das war hier nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt aber nicht der Fall. [...]