VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 26.08.2021 - M 24 K 17.38610 - asyl.net: M30182
https://www.asyl.net/rsdb/m30182
Leitsatz:

Kein Schutz für Mann aus Afghanistan:

1. Seit dem 16. August 2021 haben die Taliban die (faktische) Regierungsgewalt übernommen und kontrollieren den Großteil des afghanischen Staatsgebietes. Ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 AsylG liegt seit diesem Zeitpunkt nicht mehr vor.

2. Rückkehrhilfen für freiwillig nach Afghanistan ausreisende Personen sind nicht mehr verfügbar.

3. Bei alleinstehenden und leistungsfähigen Männern sind die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht erfüllt, wenn keine besonderen individuellen Umstände vorliegen, die die Leistungsfähigkeit der betroffenen Person einschränken.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Taliban, Afghanistan, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, freiwillige Ausreise,
Normen: AsylG § 4, EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

31 4.5. Es liegen auch keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass dem Kläger als Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).

32 Im Rahmen der Prüfung der Intensität der allgemeinen Gefährdungslage hat die Rechtsprechung bei der Anwendung der nationalen Vorschrift des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG sich in unionskonformer Auslegung an
Art. 15 Buchstabe c RL 2011/95 (QualRL) auszurichten (EuGH, U.v. 10.6.2021 - C901/19 - juris). [...]

34 Bei der wertenden Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage in Afghanistan ist im Hinblick auf die allgemeine Gefahrendichte im gegenwärtig maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu sehen, dass einhergehend mit dem nahezu abgeschlossenen Abzug der internationalen Kampftruppen aus Afghanistan und darüber hinaus seit dem 16. August 2021 durch die Übernahme der (faktischen) Regierungsgewalt und der Gebietskontrolle durch die Taliban unter Beendigung der Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften, die allgemeine Gefahrendichte nach dem 16. August 2021 in Afghanistan "schlagartig" extrem abgenommen hat. Lag bereits zum Zeitpunkt der obergerichtlichen Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Juni 2021 (Az. 13a B 21.30342) eine Sicherheitslage vor, die keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellte, so trifft dies erst Recht im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt zu, in dem die Kampfhandlungen im Rahmen des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Afghanistan durch die Machtübernahme der Taliban ihr Ende fanden.

35 Seit dem 16. August 2021 gibt es keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt. [...]

48 Soweit die jüngste Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs die geänderten Rückkehrhilfen bei der Beurteilung der Bestreitung des Existenzminimums in Afghanistan miteinbezieht, ist zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen, dass in Folge der (faktischen) Machtübernahme der Taliban in Afghanistan die Rückkehrhilfen ab dem 17. August 2021 bis auf Weiteres "eingefroren" wurden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).

49 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof weist jedoch in seinem jüngsten Urteil vom 7. Juni 2021 (s.o.) darauf hin, dass sich im Einzelfall besondere individuelle Umstände ergeben können, die ausnahmsweise zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistans führen können.

50 5.1.2.2. In der Person des Klägers liegen solche besonderen individuellen Umstände, die seine Leistungsfähigkeit einschränken, insbesondere so einschränken würden, dass er unabdingbar "zwingend" auf den Erhalt von Rückkehrhilfen zur Eigenexistenzsicherung angewiesen wäre, unter Berücksichtigung seiner Angaben beim Bundesamt und der Klagebegründung nicht vor.

51 Aufgrund fehlender, besonderer persönlicher Umstände des Klägers ist das Gericht bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung davon überzeugt, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan ausgesetzt wäre, gewachsen ist. Es bestehen keine besonderen Einschränkungen des Klägers, die zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit führen könnten; mithin unterscheidet sich der Kläger nicht von anderen volljährigen leistungsfähigen Männern, von denen die obergerichtliche Rechtsprechung ausgeht, dass diese im Allgemeinen auf dem umkämpften Tagelöhnermarkt Afghanistans ein Minimalauskommen finden, mithin ist dies beim Kläger auch anzunehmen (vgl. BayVGH, U.v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 - juris 47; U. v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 34ff.; U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26ff.; B.v. 29.11.2017 - 13a ZB 17.31251 - juris Rn. 6; B.v. 19.6.2017 - 13a ZB 17.30400 - juris Rn. 13; B.v. 4.1.2017 - 13a ZB 16.30600 - juris Rn. 4; B.v. 27.7.2016 - 13a ZB 16.30051 - juris Rn. 4; U.v. 12.2.2015 - 13a B 14.30309 - juris; U.v. 30.1.2014 - 13a B 13.30279 - juris), so dass in der Folge beim Kläger nicht vom Vorliegen eines nationalen Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung auszugehen ist. [...]