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VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 07.09.2021 - A 14 K 9499/17 - asyl.net: M30178
https://www.asyl.net/rsdb/m30178
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für ehemals beim Militär beschäftigen Mann und berufstätige Frau aus Afghanistan:

"Einem ehemaligen Angehörigen des afghanischen Militärs droht in Afghanistan die Verfolgung aus politischen Gründen. Dies gilt in besonderem Maße, wenn nahe Angehörige aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in das Blickfeld der Taliban geraten waren (Vater Polizist, Onkel Staatsanwalt). Eine weitere Gefahrerhöhung kann sich durch die Berufstätigkeit der Ehefrau geben, die damit gegen die durch die Taliban radikal-islamisch geprägten sozialen Sitten verstößt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Militär, Armee, Polizei, Lehrerin, Lehrer, Frau, Frauen, Flüchtlingseigenschaft, Taliban, geschlechtsspezifische Verfolgung, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

35 Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass beide Kläger aufgrund der militärischen Tätigkeit des Klägers zu 1 für die afghanischen Streitkräfte sowie aufgrund seines familiären Hintergrunds so wie die ganze Familie des Klägers zu 1 in das Visier der Taliban aus politischen Gründen geraten sind.

36 Die Schilderungen des Klägers zu 1 stimmen mit der Auskunftslage zum Zeitpunkt der geschilderten Bedrohung überein. Es gab und gibt ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter  regierungsfeindlicher Gruppen gegen afghanische Militärangehörige. Die Angriffe reichen von Einschüchterungen, Attentaten, Entführungen und Punktzielangriffen bis zur Verwendung von selbst gebauten Sprengkörpern und Selbstmordattentaten. Im Zeitraum 2014 bis 2015 dokumentierte UNAMA mehrere gezielte Angriffe auf zivile Staatsbedienstete; diese zählten häufig zu den Opfern gezielter Tötungen. Die Taliban hätten Berichten zufolge ihre Taktik geändert und griffen seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte in erster Linie die afghanischen Sicherheitskräfte an (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 15.07.2021, Stand: Mai 2021, S. 16; Briefing Notes des Bundesamtes vom 03.05.2021; New York Times, ‚There Is No Safe Area‘: In Kabul, Fear Has Taken Over, 17.01.2021; Der Spiegel, Uno dokumentiert blutigsten November seit Beginn der Aufzeichnungen, 23.02.2021). Auch in dem Verhaltenskodex der Taliban (Layeha) wird erwähnt, dass Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte gezielt angegriffen und getötet werden. In diesem Verhaltenskodex finden sich im ersten Kapitel Anweisungen dazu, wie Angehörige der afghanischen Streitkräfte dazu bewegt werden können, zu ihnen überzulaufen und sich der Gruppe anzuschließen. Weiter wird Imamen, deren Stellvertreter, Provinzrichtern oder dem Provinzgouverneur die Befugnis zur Bestrafung übertragen, um die Hinrichtung gefangen genommener und mutmaßlich schuldiger Angehöriger der afghanischen Sicherheitskräfte oder sonstiger Regierungsvertreter vollziehen zu können. Für die Taliban stellen Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte "Marionetten" dar (vgl. European Asylum Support Office, Afghanistan Anti-Government Elements, 01.08.2020 - EASO, AGE, 2020 - S. 24 f.). Berichten zufolge wurden auch ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte von regierungsfeindlichen Kräften angegriffen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - Stand 19.04.2016). Es gab sogar Berichte zur Ermordung von Familienangehörigen von Armeesoldaten (s. Briefing Notes des Bundesamtes vom 03.05.2021). Seit Dezember 2020 / Januar 2021 ist generell eine zunehmende Destabilisierung und eine landesweit zunehmende Gewalt zu verzeichnen, (beispielhaft beginnend mit den Briefing Notes des Bundesamts vom 11.01.2021; s.a. Aljazeera, Afghanistan – Visualising the impact of 20 years of war, abzurufen unter: interactive.aljazeera.com/je/2021/afghanistan-visualising-impact-of-war/index.html; AAN, Civilian Casualties Worsened as Intra-Afghan Talks Began, says UNAMA’s 2020 report on the Protection of Civilians, 28.02.2021; New York Times, 'There Is No Safe Areaʼ: In Kabul, Fear Has Taken Over, 17.01.2021; Der Spiegel, Uno dokumentiert blutigsten November seit Beginn der Aufzeichnungen, 23.02.2021). Auch zahlreiche weitere Erkenntnismittel machen Ausführungen zu den sich weiter verschärfenden Machtkämpfen und der mit voranschreitendem Rückzug der internationalen Kräfte zunehmend fragileren Situation der afghanischen Regierungstruppen (vgl. nur UNSC, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 12.03.2021; HRW, Afghanistan: Targeted Killings of Civilians Escalate, 16.03.2021; AAN, Civilian Casualties Worsened as Intra-Afghan Talks Began, says UNAMA’s 2020 report on the Protection of Civilians, 28.02.2021; ACCORD, Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 27.01.2021). Dabei konnte bereits seit längerem festgestellt werden, dass die Taliban in den von ihnen kontrollierten Regionen eine ernstzunehmenden Parallelregierung organisiert und durchgesetzt haben, mit ihrem eigenen Rechtssystem und einem Einfluss, der so weit reicht, dass Regierungsprojekte in diesen – Stand November 2020 – rund 400 Distrikten nur mit Zustimmung und Kooperation der Taliban umsetzen konnte (Thomas Ruttig, Die Parallelregierung, 21.11.2020, taz.de/Truppenabzug-aus-Afghanistan/!5727714/).

37 b) Für die Klägerin zu 2 ergibt sich eine konkrete Gefährdung durch Verfolgungsmaßnahmen seitens der Taliban aus der militärischen Tätigkeit ihres Mannes, da – wie dargelegt – nicht nur die Militärangehörigen  selbst, sondern auch ihre Angehörigen von Verfolgungsmaßnahmen wie Entführung und Tod bedroht sind. Zudem entspricht sie mit ihrem persönlichen Werdegang nicht dem Rollenbild, das die Taliban Frauen zu gedenken. Das Gericht hat sich in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die Klägerin Biologie studiert und das Studium angeschlossen sowie anschließend an einer Grundschule als Lehrerin unterrichtet hat. Sie habe zwar tatsächlich – wie im Protokoll der Anhörung vor dem Bundesamt festgehalten – einen Säureangriff auf eine Kommilitonin miterlebt, sich davon aber nicht von ihrem Studium abbringen lassen.

38 Damit verstößt die Klägerin gegen die sozialen Sitten, die seit der Regierungsübernahme durch die Taliban landesweit durch diese radikal-islamisch geprägt werden. Die gesellschaftliche Position der Frauen und Mädchen in Afghanistan beruht auf einer Vielzahl von Sitten, Normen und Werten, die auf traditionellen Überlieferungen aus Familien, Religion, Stämmen und Gebräuchen beruhen. In der afghanischen Gesellschaft ist die Diskriminierung von Frauen und Mädchen aufgrund des Geschlechts stark verwurzelt. Die Männer sind Autoritätspersonen, die für Schutz, Sicherheit und allgemeine Bedürfnisse der Familie zuständig sind, was stark mit deren Ehrgefühl verbunden ist, während Frauen für das häusliche Leben verantwortlich und dem Mann untergeordnet sind. Frauen benötigen im Allgemeinen eine männliche Begleitperson, einen Kollegen oder Vormund, um sie – bis zur Machtübernahme durch die Taliban galten noch Ausnahmen für die Großstädte Kabul, Mazar-e-Sharif und Herat – außerhalb des Hauses zu begleiten. Frauen in Afghanistan halten sich insbesondere in der Öffentlichkeit an strenge gesellschaftliche Beschränkungen in Bezug auf Aussehen, Kleidung und Verhalten (EASO, Country of Origin Information, Report Afghanistan, Individuals targeted under societal and legal norms, Dezember 2017). Demgegenüber werden Frauen, die sich nicht dem dargestellten Rollenbild entsprechend verhalten, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig wahrgenommen. Dies betrifft Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Hierzu können insbesondere Frauen zählen, die – wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen – Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten und damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden (vgl. UK Home Office, Country Policy and Information Note, Afghanistan: Women fearing gender-based violence, Version 3.0, März 2020, S. 28; siehe auch Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15.07.2021, Stand: Mai 2021, S. 16, hinsichtlich der Gefährdung berufstätiger Frauen, und Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile - Update der SFH-Länderanalyse, 30.09.2020, S. 7). [...]

40 Die Gefahr erneuter Verfolgung ergibt sich für die Kläger verschärft nach dem erfolgten Machtwechsel am 15.08.2021 und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan durch die Taliban. Der mit dem Abschluss des Abkommens zwischen den USA und den Taliban – ohne Beteiligung der afghanischen Regierung - am 29.02.2020 in Gang gesetzte Prozess (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 14.01.2021, S. 16; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, Dezember 2020, S. 58), in dessen Verlauf die Taliban gegenüber der afghanischen Regierung an Stärke und Macht gewannen, hat sich in den vergangenen Wochen in dem Maße beschleunigt, wie die alliierten Streitkräfte sich aus Afghanistan zurückzogen. Nachdem in den beiden ersten Augustwochen in immer kürzeren Abständen die Provinzhauptstädte an die Taliban gefallen waren, floh Präsident Ghani im Laufe des 15.08.2021 ins Ausland, die Taliban nahmen Kabul daraufhin kampflos ein (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, a) Aktuelle Lage in Afghanistan, b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan; Der Tagesspiegel, Präsident flieht aus Afghanistan – Deutsche Botschaft geräumt, 15.08.2021; Briefing Notes des Bundesamts vom 16.08.2021). Sie fanden verlassene Polizeistationen und Ministerien vor, auch die afghanischen Streitkräfte waren geflohen. Bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere Russland, China, Pakistan) wurden die Botschaften überstürzt geräumt und das Botschaftspersonal zum militärischen Teil des Flughafens Kabul verlegt (Der Tagesspiegel, aaO). In den folgenden zwei Wochen wurden unter Führung der amerikanischen Streitkräfte durch zahlreiche westliche Staaten unter chaotischen Umständen rund um den Kabuler Flughafen ungefähr 120.000 Menschen evakuiert (davon ca. 4.500 durch die Bundeswehr), Staatsangehörige der beteiligten Nationen sowie afghanische Staatsangehörige, die sich vor den neuen Machthabern in Sicherheit bringen wollten (Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de/politik/afghanistan-news-taliban-deutschland-1.5396664, Meldung vom 31.08.2021, abgerufen am 05.09.2021). Nach derzeitigen Angaben des Auswärtigen Amts gehe man von mehr als 40.000 zur Ausreise nach Deutschland berechtigten Afghanen, sog. Ortskräfte und ihre engsten Angehörigen, aus, die in Afghanistan zurückgeblieben sind (Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 30.08.2021, www.auswaertigesamt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2478940).

41 Trotz einiger offizieller Verlautbarungen der Taliban, die eine gegenüber der ersten Herrschaft der Taliban gemäßigte Vorgehensweise ankündigen (siehe hierzu Deutschlandfunk Kultur,https://www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistans-zukunft-taliban-predigen-emiratlight.979.de.html?dram:article_id=501891, 19.08.2021), gab es bereits kurz nach der Machtübernahme Meldungen seitens des UNHCR und Human Rights Watch, dass es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei (so die UNHochkommissarin für Menschenrechte, Statement vom 24.08.2021, S. 1). Außerdem sei laut UNHCR der Bewegungsspielraum von Frauen in manchen Regionen eingeschränkt worden, Mädchen dürften teilweise nicht mehr zur Schule gehen (Briefing Notes des Bundesamts vom 30.08.2021). Mehr Aussagekraft als Pressemitteilungen der Taliban in diesen Wochen, in denen das Interesse der Weltöffentlichkeit auf Kabul gerichtet ist, dürften die Verhältnisse in den Regionen aufweisen, die bereits seit längerem von den Taliban beherrscht werden (Emran Feroz, Journalist und Afghanistan-Experte, Deutschlandfunk Kultur, Afghanistans Zukunft, Taliban predigen Emirat light, 19.08.2021, www.deutschlandfunkkultur.de/afghanistanszukunft-taliban-predigen-emirat-light.979.de.html.

42 Wenige Tage nach Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan wurde berichtet, dass die Taliban in Kabul und anderen Städten von Haus zu Haus gehen und gezielt nach Personen suchen würden, die mit westlichen Staaten zusammengearbeitet oder zentrale Positionen im afghanischen Militär, der Polizei und den Ermittlungsbehörden innegehabt hätten. Auch Familienmitglieder dieser Personen sollen in Haft genommen worden sein (Briefing Notes des Bundesamts vom 23.08.2021 unter Berufung auf den Bericht des Norwegian Center for Global Analyses im Auftrag der UN vom 18.08.2021; Zeit online, Das Geld wird  napp, die Verstecke auch, 08.09.2021, www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/afghanistanevakuierung-abschluss-taliban-bevoelkerung-lage-protokolle). Daraufhin habe man die Räumung der sog. Safe Houses ehemaliger Mitarbeiter veranlasst, ehe diese zur Falle für die betroffenen Personen wurden (Tagesschau 16.08.2021, 350 Ortskräfte verlassen "Safe Houses", www.tagesschau.de/ausland/asien/safehouses-afghanistan-101.html), bestätigt durch einen für die UN, demzufolge die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren" verstärken (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation: Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand: 20.08.2021, S. 2). Es kann bezweifelt werden, dass die Taliban ihre religiös begründeten Werte aufgeben werden (AAN, Thomas Ruttig, Have The Taliban Changed? 29.03.2021, www.afghanistan-analysts.org/en/other-publications/external-publications/have-thetaliban-changed/). Insbesondere Frauen und Mädchen gehören zu den am meisten gefährdeten Gruppen, es wird vielfach von begründeten Befürchtungen von Gräueltaten gegen Frauen und Mädchen wie in der Zeit der ersten Taliban-Herrschaft berichtet, wenn diese extrem weitgehende Einschränkungen wie eine Vollverhüllung in der Öffentlichkeit und den Verzicht auf Bildung und Erwerbstätigkeit nicht akzeptieren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA], Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, a) Aktuelle Lage in Afghanistan, b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, 17.08.2021, S. 3). Frauen trauen sich daher selbst in Kabul nur noch in Ausnahmefällen auf die Straße (AAN, Martine van Bijlert, The Taleban leadership converges on Kabul as remnants of the republic reposition themselves, 17.08.2021), selbst Bilder unverschleierter Frauen auf Plakaten wurden umgehend nach dem Einrücken der Taliban in Kabul als Ausdruck des Gehorsams und großer Furcht vor den Taliban entfernt bzw. übermalt (BFA, Sonderkurzinformation, 17.08.2021, aaO, S. 3).

43 Ein vernünftig denkender besonnener Mensch wird in dieser Situation den offiziellen Verlautbarungen der Taliban nicht trauen, zumal die Präsentation der neuen Regierungsmannschaft am 07.09.2021 nicht Anlass zur Hoffnung gibt, sondern Befürchtungen zusätzlich nährt. Das Kabinett besteht ausschließlich aus Männern, einige davon auf der Fahndungsliste der US-Ermittlungsbehörde FBI als Terroristen geführt (Zeit online, USA beunruhigt über Kabinett der Taliban, Süddeutsche Zeitung, Männer, Mullahs, Extremisten, 08.09.2021, www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/afghanistan-usa-sorge-talibankabinett-al-kaida-blinken).

44 Die Klägerin zu 2 zählt als Frau zu den unter der erneuten Herrschaft der Taliban besonders gefährdeten Gruppen, die Angst vor einer Wiederkehr der damaligen Gräueltaten ist groß (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sonderkurzinformation zur Staatendokumentation, a) aktuelle Lage in Afghanistan, b) Hinweise für die Benützung der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, 17.08.2021, S. 3). Dies zeigt sich wie erwähnt schon im Straßenbild Kabuls, aus dem Frauen nach dem Machtwechsel ganz überwiegend verschwunden sind (Berichte über Betroffene von Emran Feroz, Deutschlandfunk Kultur, Afghanistans Zukunft, Die Taliban predigen Emirat light, 19.08.2021, aaO; Zeit online, Das Geld wird knapp, die Verstecke auch, 08.09.2021, www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/afghanistanevakuierung-abschluss-taliban-bevoelkerung-lage-protokolle). Schon nach wenigen Tagen gab es Berichte über gegenüber Radiomoderatorinnen ausgesprochene Verbote, ihrer Tätigkeit weiter nachzugehen (Briefing Notes des Bundesamts vom 23.08.2021, S. 1 f.). Es gibt große Befürchtungen, dass die in den vergangenen zwei Jahrzehnten erzielten Fortschritte hinsichtlich der Frauenrechte wieder rückgängig gemacht werden (so die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Statement vom 24.08.2021, S. 1). Aktuelle Meldungen über den ausschließlich an männliche Lehrkräfte und Schüler gerichteten Aufruf der Taliban, wieder zur Schule zu kommen (Der Spiegel, Taliban öffnen weiterführende Schulen für Jungen wieder – nicht für Mädchen, 18.09.2021, www.spiegel.de/ausland/afghanistan-taliban-oeffnen-weiterfuehrende-schulen-fuerjungen-wieder-nicht-fuer-maedchen-a-18239e7d-aa03-4fb5-992b-eb37bded0064) und die Einrichtung eines »Ministerien für Gebet und Führung und die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern« in den Räumen des bisherigen Frauenministeriums (Zeit online, Taliban ersetzen Frauenministerium durch Tugendbehörde, 17.09.2021, www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/kabul-taliban-tugendministeriumfrauenministerium-proteste-frauen-entlassungen) bestätigen diese Einschätzung.

45 Die drohenden Maßnahmen – insbesondere Festnahme durch Taliban und Folter bis hin zu einer Tötung – sind als Verfolgungshandlungen i.S. von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG zu qualifizieren.

46 Diese Verfolgungshandlungen werden zudem auf eine den Klägern durch die Taliban zumindest zugeschriebene politische Anschauung im Sinne des § 3 Abs..1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG
gestützt. Dies stimmt auch mit der in Erkenntnisquellen aufgrund einer Auswertung der vorhandenen Informationen geäußerten Einschätzung überein (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, Dezember 2020, S. 59). Die Taliban sehen ihr Ziel in der Errichtung eines ihren religiösen Auffassungen entsprechend geleiteten staatlichen Gemeinwesens, dem sich die Streitkräfte unter der bisherigen Regierung widersetzt haben, weshalb ihnen eine dementsprechende politische Überzeugung bzw. Gegnerschaft zugeschrieben wird. [...]

49 3. Eine interne Fluchtalternative besteht für die Kläger nicht. Weder Kabul noch andere Großstädte oder sichere ländliche Regionen kommen für sie als interne Schutzalternative gemäß § 3e AsylG in Betracht, seitdem die Taliban das gesamte Land unter ihrer Kontrolle halten.

50 Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln sind die Taliban aufgrund ihres landesweiten Netzwerkes grundsätzlich in der Lage, von ihnen gesuchte Personen in anderen Landesteilen aufzuspüren (vgl. etwa Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltag Afghanistans, Asylmagazin 3/2017, S. 82; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 15.07.2021, Stand: Mai 2021, S. 15), und zwar sowohl in ländlichen als auch in urbanen Regionen (IRB Canada, Whether the Taliban has the capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over the long term; Taliban capacity to carry out targeted killings, [2012-January 2016], 15.02.2016). Dabei benötigen die Taliban wenig eigenes Personal, aufgrund der Stammesstrukturen und der starken sozialen Kontrolle innerhalb der afghanischen Gesellschaft eine fremde Person ohnehin zum zentralen Gesprächsthema eines Dorfes wird, aber auch überall im Land über die weit verstreuten Stammesstrukturen aufgespürt werden kann (IRB Canada, aaO). Mit der Machtübernahme sind ihnen weitere Ressourcen in die Hände gefallen, um alle Personen, die sie als Gegner verstünden, zielgerichtet zu verfolgen, insbesondere eine umfangreiche Sammlung biometrischer Daten (Iris, Fingerabdrücke, Gesichtserkennung) der afghanischen Bevölkerung durch das US-Militär, denen auch die Bundeswehr zugearbeitet hat. Die Daten von afghanischen Mitarbeitern wurden gesammelt und für die Zugangskontrollen genutzt, um verdeckt arbeitenden Terroristen den Zutritt zu verwehren. Der Umfang dieser Sammlung sensibler Daten soll auch den amerikanischen Verantwortlichen nicht bekannt sein, Ziel sei es gewesen, von so vielen Afghanen wie möglich biometrische Daten zu ermitteln. Diese Sammlung gibt nun den Taliban eine umfassende Fahndungsliste in die Hand, die insbesondere alle Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte und der internationalen Organisationen erfasst und damit die Zielgruppe, die besonders durch die Taliban bedroht ist (Redaktionsnetzwerk Deutschland, Sven Christian Schulz, Taliban erbeuten biometrische Geräte: Tickende Zeitbombe für Ortskräfte – welche Rolle spielt die Bundeswehr? 19.08.2021, www.rnd.de/politik/afghanistan-taliban-erbeuten-biometrische-daten-von-us-militaerund-bundeswehr-UWXNVEAEBFYXP73QQHU6B6RL4.html). [...]