VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 10.11.2021 - 31 L 188/21 A - asyl.net: M30175
https://www.asyl.net/rsdb/m30175
Leitsatz:

Keine Identitätstäuschung bei geringfügigen Unterschieden in der Schreibweise des Namens:

1. Die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG wegen Täuschung über die Identität setzt voraus, dass die schutzsuchende Person im Asylverfahren vorsätzlich fehlerhafte Angaben über individuelle, personenbezogene Merkmale macht, die zur Feststellung der Identität dienen und dass diese Angaben tatsächlich geeignet sind, beim BAMF einen Irrtum über die Identität bzw. Person des Schutzsuchenden herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten.

2. Eine Identitätstäuschung steht hier nicht hinreichend fest, da der Name, der im Asylverfahren angegeben wurde, nur geringfügig von dem Namen abweicht, der im gambischen Reisepass steht. Die Schreibweise der Namen in Gambia wird unterschiedlich gehandhabt, sodass schon fraglich ist, ob der Antragsteller objektiv über seine Identität getäuscht hat. Zumindest kann in subjektiver Hinsicht kein Täuschungsvorsatz unterstellt werden.

3. Eine Ablehnung eines Antrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG wegen einer gröblichen Verletzung von Mitwirkungspflichten liegt nicht schon dann vor, wenn die Existenz eines Reisepasses nicht aus eigenem Antrieb gegenüber dem Bundesamt offengelegt wird.

4. Eine Ablehnung eines Antrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 AsylG, weil die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen, ist nicht ohne weiteres möglich, wenn jemand angibt, von Familienmitgliedern mit dem Tode bedroht zu werden, da dies Grund für die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG sein kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Gambia, offensichtlich unbegründet, Identitätstäuschung, Mitwirkungspflicht, Pass, Passpflicht, subsidiärer Schutz, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1, AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 2, AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 5
Auszüge:

[...]

9 Der Tatbestand der Identitätstäuschung gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist (nur) dann gegeben, wenn der Schutzsuchende im Asylverfahren - vorsätzlich [...] - fehlerhafte Angaben über individuelle, personenbezogene Merkmale macht, die zur Feststellung seiner Identität dienen, wobei die Angaben tatsächlich geeignet sein müssen, bei dem für die Entscheidung über das Asylbegehren zuständigen Bundesamt einen Irrtum über die Identität bzw. Person des Schutzsuchenden herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten. Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Angaben des Schutzsuchenden auf eine andere Person hindeuten können, also auf eine fremde, von dem Schutzsuchenden verschiedene Identität [...]. Regelmäßig erfolgt eine solche Identitätstäuschung durch Angabe eines falschen Namens, während etwa die bloße Nennung eines falschen Geburtsdatums bei ansonsten zutreffend gemachten personenbezogenen Angaben in den allermeisten Fällen nicht geeignet sein wird, einen Irrtum über die Identität hervorzurufen [...].

10 Gemessen daran steht eine Identitätstäuschung durch den Antragsteller nach Auffassung des Gerichts nicht hinreichend fest. Maßgeblich hierfür ist, dass der Name, mit dem der Antragsteller im Asylverfahren zunächst geführt wurde, nur geringfügig von dem Namen abweicht, der in seinem gambischen Reisepass erscheint. Dabei stellt das Gericht vor allem auch in Rechnung, dass die Schreibweise der Namen in Gambia unterschiedlich gehandhabt wird, wofür verschiedene Gründe ursächlich sind, wie der niedrige Alphabetisierungsgrad in der Bevölkerung, die geringe Verbreitung von Druckerzeugnissen, die Existenz verschiedener Ethnien mit unterschiedlichen Sprachen und zum Teil unterschiedlichen Notationen, Immigration (z.B. aus eher frankophonen Ländern der Region wie Guinea, Senegal oder Mali) sowie unterschiedliche Sprachregelungen (vgl. de.wikipedia.org/wiki/Gambische_Personennamen). Dies zugrunde gelegt, erscheint dem Gericht bereits fraglich, ob der Antragsteller objektiv über seine Identität getäuscht hat. Jedenfalls aber kann dem Antragsteller bei dieser Sachlage in subjektiver Hinsicht ein sanktionsbewehrter Täuschungsvorsatz nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG nicht ohne Weiteres unterstellt werden [...]

12 Insbesondere geht das Gericht unter Berücksichtigung der einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 31 Abs. 8 Buchst. c und d der Richtlinie 2013/32/EU (sog. Verfahrensrichtlinie) sowie vor dem Hintergrund der gebotenen restriktiven Auslegung der als Missbrauchstatbestände konzipierten Qualifikationsfälle des § 30 Abs. 3 AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 - BVerwG 1 C 10/06 -, juris Rn. 37; VG Berlin, Beschluss vom 19. Oktober 2017 - VG 28 L 228.17 A -, juris Rn. 6; VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 8. Januar 2018 - 4 L 1476/17.A -, juris Rn. 7) davon aus, dass der Antragsteller, soweit er die Existenz seines gambischen Reisepasses gegenüber dem Bundesamt nicht selbst offen gelegt hat, (noch) nicht im Sinne des § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG "gröblich" seine Mitwirkungspflichten nach § 13 Abs. 3 Satz 2, § 15 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 oder § 25 Abs. 1 AsylG verletzt hat, zumal nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, inwiefern sich eine (frühzeitige) Vorlage des Reisepasses negativ auf die Entscheidung des Bundesamtes über das 3 Schutzersuchen des Antragstellers hätte auswirken können [...]