VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 29.09.2021 - 31 K 634.18 A - asyl.net: M30165
https://www.asyl.net/rsdb/m30165
Leitsatz:

Subsidiärer Schutzstatus für psychisch erkrankten Mann aus Guinea:

1. Auch vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie ist in der Regel davon auszugehen, dass alleinstehende junge und gesunde Männer bei einer Rückkehr nach Guinea ihre Existenz sichern können.

2. Dies gilt jedoch nicht für besonders schutzbedürftige Personen, etwa bei Vorliegen einer behandlungsbedürftigen PTBS. Dass durch die Behandlung in Deutschland zwischenzeitlich eine psychische Stabilisierung eingetreten ist, lässt nicht den Schluss zu, dass die betroffene Person auch mit den prekären Umständen in Guinea zurechtkommt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, Posttraumatische Belastungsstörung, Krankheit, psychische Erkrankung, subsidiärer Schutz, interner Schutz, Existenzgrundlage, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, besonders schutzbedürftig,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3e, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

1.3 Indes kann der Kläger zur Überzeugung des Gerichts die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG beanspruchen. [...]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem Herkunftsland Guinea beachtlich wahrscheinlich ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer von seinem Onkel ausgehenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht. Insoweit hat das Gericht nach dem Vorbringen des Klägers im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren keinen ernstlichen Zweifel daran, dass der Kläger im Sinne der Vermutungsregel aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU bereits vor seiner Ausreise aus Guinea einen solchen Schaden erlitten hat und einem weiteren Schadenseintritt durch seine Flucht unmittelbar zuvor gekommen ist. Darüber hinaus bestehen auch keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass dem Kläger ein entsprechender Schaden erneut eintreten könnte. Zwar müsste der Kläger als mittlerweile erwachsener Mann in Guinea wohl nicht mehr bei seinem Onkel leben, sondern könnte sich ein eigenständiges Leben aufbauen und sich so zumindest dem unmittelbaren Einflussbereich des Onkels entziehen; er dürfte deshalb jedenfalls nicht mit erneuter Gewalt, Misshandlung und Ausbeutung im engeren häuslichen Kontext konfrontiert sein. Jedoch erachtet das Gericht als glaubhaft, dass der Kläger die Erheblichkeitsschwelle des § 4 Abs. 1 Satz 1 (i.V.m. Satz 2 Nr. 2) AsylG erreichende Gewalt von Seiten seines Onkels auch außerhalb des engeren häuslichen Rahmens zumindest noch deshalb zu fürchten hat, weil dieser ihn des Diebstahls bezichtigt und mit Blick auf seine Persönlichkeitsstruktur und einen entsprechenden in Guinea herrschenden soziokulturellen Hintergrund bereit dazu sein dürfte, sein (vermeintliches) Recht selbst "in die Hand zu nehmen" und eigenmächtig durchzusetzen, jedenfalls aber den (behaupteten) Diebstahl zum Anlass zu nehmen, den Kläger erneut seiner Willkür auszusetzen. Die allgemeine Auskunftslage bestätigt, dass es in Guinea immer wieder zu Repressionen und Übergriffen in der Bevölkerung kommt. Neben der bereits erwähnten häuslichen Gewalt, insbesondere gegen Kinder und Frauen (vgl. zu Gewalt gegen Frauen etwa auch US Department of State, a.a.O., S. 10 f.), rechnen hierzu auch Fälle von Selbst- und Lynchjustiz, die auch im mangelnden Vertrauen der Bevölkerung in das lokale Justizsystem und dessen mangelnden Kapazitäten gründen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 12; US Department of State, a.a.O., S. 13). Jedenfalls unter den Gegebenheiten des vorliegenden Falls geht das Gericht auch davon aus, dass der Kläger gegen Übergriffe seines Onkels nicht auf einen hinreichenden Schutz durch den guineischen Staat vertrauen könnte (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 und § 3d AsylG; vgl. z.B. auch Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 12: "Der Staat nimmt Gewalt gegen Frauen und Kinder <…> durch Dritte regelmäßig hin"; US Department of State, a.a.O., S. 10: "authorities rarely prosecuted perpetrators" <zu Gewalt gegen Frauen>).

Der Kläger muss sich im Hinblick auf eine ihm im Fall seiner Rückkehr nach Guinea von seinem Onkel ausgehende Gefahr auch nicht auf internen Schutz verweisen lassen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG). Denn für ihn besteht die tatsächliche Gefahr, außerhalb seines früheren Wohnortes und des unmittelbaren Einflussbereichs seines Onkels auf so schlechte wirtschaftliche, soziale und humanitäre Bedingungen zu stoßen, dass er am Ort des internen Schutzes mangels ausreichender Lebensgrundlage seine Existenz nicht sichern könnte und ihm deshalb eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Verelendung drohen würde (vgl. für diese Voraussetzung des internen Schutzes, die insoweit dem Maßstab des § 60 Abs. 5 AufenthG entspricht, nur BVerwG, Beschluss vom 13. Juli 2017 - BVerwG 1 VR 3/17 u.a. -, juris Rn. 92 u. 114).

Zwar geht die erkennende Kammer in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass gesunde, nicht besonders vulnerable Rückkehrer ohne erwerbsmindernde Erkrankungen trotz der in Guinea verbreiteten Armut und fehlender Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk in der Regel in der Lage sein werden, sich mit ungelernter Arbeit so viel zu verdienen, dass sie für ihre Existenz sorgen können; das gilt auch in Anbetracht der herrschenden, durch das SARS-CoV-2-Virus ausgelösten COVID 19-/Corona-Pandemie und - jedenfalls nach bisheriger Erkenntnislage - ungeachtet des Militär-Putsches von Anfang September (vgl. VG Berlin, Urteile vom 8. September 2021 - VG 31 K 819.18 A -, a.a.O., Rn. 40 ff., und vom 8. September 2021 - VG 31 K 809.18 A -, a.a.O., Rn. 31 ff.; vor dem Militär-Putsch ferner zuletzt z.B. auch, VG Berlin, Urteile vom 26. August 2021 - VG 31 K 984.18 A -, S. 11 ff. d. amtl. Abdr., vom 23. Juli 2021, a.a.O., S. 10 f., vom 2. Juni 2021 - VG 31 K 1045.18 A -, a.a.O., S. 10 f., vom 2. Juni 2021 - VG 31 K 261.18 A -, a.a.O., S. 11 f., vom 5. Mai 2021 - VG 31 K 200.18 A -, S. 11 ff. d. amtl. Abdr., vom 5. Mai 2021 - VG 31 K 677.18 A -, S. 10 ff. d. amtl. Abdr., vom 22. April 2021 - VG 31 K 443.18 A -, S. 7 ff. d. amtl. Abdr., vom 15. April 2021 - VG 31 K 308.18 A -, S. 9 f. d. amtl. Abdr., vom 1. April 2021 - VG 31 K 127.19 A -, S. 7 ff. d. amtl. Abdr., vom 1. April 2021 - VG 31 K 986.18 A -, a.a.O., S. 6 ff., vom 25. März 2021, a.a.O., S. 11 ff., und vom 18. Februar  021 - VG 31 K 901.18 A -, S. 8 d. amtl. Abdr.). Im Einzelfall kann sich bei einer Gesamtwürdigung der allgemeinen und individuellen Umstände jedoch ergeben, dass Schutzsuchenden insbesondere aufgrund ihres Gesundheitszustandes und eines im Wesentlichen fehlenden familiären Netzwerks bei einer Rückkehr nach Guinea dort beachtlich wahrscheinlich eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Verelendung drohen würde, weil sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen schlechterdings nicht arbeitsfähig sind oder sich auf dem guineischen Arbeitsmarkt bei der Konkurrenz um Gelegenheitsarbeiten - die vor allem eine körperliche Belastbarkeit erfordern - nicht gegen die - pandemiebedingt größer gewordene - Zahl verfügbarer, ihnen körperlich überlegener Arbeitskräfte werden durchsetzen können, um ihre Existenz aus eigener Kraft zu sichern (vgl. für die ähnliche Einschätzung der Lage von Rückkehrern nach Gambia z.B. auch VG Berlin, Urteile vom 19. August 2021 - VG 31 K 528.18 A -, juris Rn. 26, vom 23. Juni 2021 - VG 31 K 437.18 A -, S. 6 f. d. amtl. Abdr., und vom 10. Dezember 2020 - VG 31 K 684.17 A-, juris Rn. 38 ff.; jeweils im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK). So liegt der Fall hier.

Das Gericht ist im Lichte der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere der fachärztlichen Stellungnahmen des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ... vom ... 2018, ... 2019 und ... 2021 sowie des ärztlichen Attests der Fachärzte für Innere Medizin Dr. ... vom ... 2018, unter Berücksichtigung der nach der allgemeinen Auskunftslage in Guinea herrschenden humanitären und sozioökonomischen Verhältnisse davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls aufgrund seiner gegenwärtig bei ihm bestehenden psychischen Beeinträchtigungen in Gestalt einer komplexen PTBS mit schwerem psychosomatischen Schmerzsyndrom seine Existenz in Guinea mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht aus eigener Kraft, d.h. mittels eigener Erwerbstätigkeit in einer den Anforderungen des Art. 3 EMRK genügenden Weise sichern kann. Zwar hat es der Kläger in Deutschland trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen vermocht, sich weiterzubilden; mehr noch, hat er als Folge seiner Bemühungen zum 1. November 2020 nunmehr sogar eine Ausbildung zum ... aufnehmen können. Gleichwohl ist der Kläger weiterhin auf eine Psychotherapie angewiesen, die als mehrjährige Langzeittherapie angelegt ist; insofern erscheint er derzeit als eine in der psychischen Verfasstheit fragile, besonders vulnerable Person, der ohne eine entsprechende Behandlung eine Destabilisierung droht. Der Kläger benötigt die weitere therapeutische Begleitung, um den eingeschlagenen Weg der psychischen Stabilisierung fortzusetzen und die bei ihm diagnostizierte psychische Erkrankung - soweit möglich - dauerhaft zu überwinden. Es liegt fern, dass der Kläger diesen Weg in Guinea weiter beschreiten können wird. Im Gegenteil, besteht ausgehend von den medizinischen Unterlagen und unter Berücksichtigung der vorhandenen, in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel das ernsthafte Risiko, dass sich sein psychisches Befinden im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland angesichts der dort für ihn bestehenden Perspektivlosigkeit und der fehlenden Möglichkeiten für eine adäquate, finanziell darstellbare Fortsetzung seiner Behandlung wieder verschlechtern würde. Dass unter den hiesigen Bedingungen eine gewisse, wenn auch offenkundig noch fragile Stabilisierung des Klägers erreicht werden konnte, die ihm - wie erwähnt - inzwischen auch die Aufnahme einer Ausbildung ermöglicht hat, erlaubt im Übrigen gerade nicht den Schluss, dass der Kläger auch unter den gänzlich anderen, widrigeren Bedingungen in Guinea zurechtkäme, zumal er nach dem Tod seines Vaters und der Ausreise seiner Mutter nach Sierra Leone dort auch nicht mehr von der Zuwendung und Hilfe seiner vormals wichtigsten Bezugspersonen profitieren könnte. Es kommt hinzu, dass der Kläger gerade einmal 14 Jahre alt war, als er sein Herkunftsland verlassen hat; die Verhältnisse in Guinea und die Anforderungen, die dort an eine eigenständige Existenzsicherung gestellt werden, sind ihm damit nicht in gleicher Weise vertraut wie Personen, die sich in Guinea gerade auch schon als Erwachsene zurechtfinden und ihren Lebensbedarf erwirtschaften mussten. [...]