Keine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist wegen Nichtbefolgung einer Selbstgestellungsaufforderung oder Flugunwilligkeit:
"1. Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung - gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs - hat.
2. Bloße Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.) oder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft reichen nicht für die Annahme, ein Antragsteller sei flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO.
3. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist flüchtig war, hat das Gericht alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat."
(Amtliche Leitsätze; siehe auch BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 - asyl.net: M30234 und BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 1.21 - bverwg.de)
[...]
17 1.2 Die Zuständigkeit ist wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aber nachträglich auf Deutschland übergegangen. [...]
19 b) Die Beklagte hat die Überstellungsfrist nicht wirksam auf 18 Monate verlängert, weil der Kläger nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin IIIVO "flüchtig" war (im Folgenden auch Flüchtigsein). Der vom Oberverwaltungsgericht für die Beurteilung eines Flüchtigseins in diesem Sinne zugrunde gelegte Maßstab steht im Einklang mit dem insoweit maßgeblichen Unionsrecht (aa). Weder war der Kläger infolge des Abbruchs des Überstellungsversuchs am 11. Mai 2018 (bb) noch wegen der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung vom 14. Mai 2018 (cc) flüchtig. [...]
21 Ein Flüchtigsein kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 70). Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen und um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems zu gewährleisten, darf aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 61 f.). Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO ("flüchtig ist") folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen (BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 27).
22 Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin IIIVO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung - gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs - hat. Im Gegensatz zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 S. 98) - Rückführungsrichtlinie - kennt das Dublin-Überstellungssystem das Institut der freiwilligen Ausreise nicht. Vielmehr erfolgt eine Dublin-Überstellung stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens. Auch bei einer Überstellung auf Initiative des Asylbewerbers nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Dublin-DVO handelt es sich um eine staatlich überwachte Ausreise, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:170915U1C26.14.0] - BVerwGE 153, 24 Rn. 17 f.). Hinsichtlich der drei Überstellungsmodalitäten geben die Dublin-Bestimmungen keine bestimmte Rangfolge vor. In welcher Variante die Überstellung erfolgt, obliegt der Regelungskompetenz des ersuchenden Mitgliedstaats (vgl. Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO; s.a. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 15). Damit im Einklang steht die nationale Umsetzung der Dublin-Bestimmungen durch ein Regel-Ausnahme-System zugunsten einer Überstellung mit Verwaltungszwang. Nach § 34a Abs. 1 AsylG kann vom Bundesamt nur die Abschiebung als Möglichkeit der Überstellung eines Ausländers in den für die Prüfung seines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat angeordnet werden. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist von der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde dadurch Rechnung zu tragen, dass die Überstellung zwar regelmäßig in Gestalt der Abschiebung vollzogen wird, im Ausnahmefall aber auch eine Überstellung ohne Verwaltungszwang möglich ist (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 17 ff.). Sie ist dem Asylbewerber von der Vollzugsbehörde dann zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass er sich freiwillig in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der verantwortlichen Behörde meldet (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - BVerwGE 153, 24 Rn. 19 ff.).
23 Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwede vorübergehende Verunmöglichung einer Überstellung. Insbesondere entzieht sich ein Ausländer jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives - wenn auch möglicherweise pflichtwidriges - Verhalten (objektiv) dem staatlichen Zugriff. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige kann selbst entscheiden, ob er an einer ihm angebotenen kontrollierten Überstellung mitwirkt oder nicht. Verweigert er seine Mitwirkung, bedarf es einer begleiteten Überstellung, die er passiv dulden muss. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation des Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und sein Verhalten möglicherweise zu einer Verzögerung führt, weil die Vollzugsbehörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen hat, stellt objektiv kein Sichentziehen dar. Der Aufenthalt des Betroffenen ist der Behörde bekannt, und eine Überstellung könnte unter Anwendung unmittelbaren Zwangs jederzeit durchgeführt werden. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Dass der Betroffene (subjektiv) regelmäßig in der Absicht handeln dürfte, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht. Eine Verlängerungsmöglichkeit allein wegen fehlender Mitwirkung des Betroffenen widerspräche nicht nur dem mit den Dublin-Bestimmungen und speziell mit Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO verfolgten Beschleunigungszweck (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo - Rn. 57 f.), sondern angesichts der erheblichen Folgen, die eine Verlängerung der Überstellungsfrist für den Betroffenen zeitigt, auch dem Ausnahmecharakter des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO (Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 - Rs. C-163/17 - Rn. 59). Folglich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers grundsätzlich weder dessen Flugunwilligkeit, ein Aufenthalt im offenen Kirchenasyl (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 C 42.20 - NVwZ 2021, 875 Rn. 26 m.w.N.), ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig. Letztere dient lediglich der Erleichterung einer - im nationalen Recht regelmäßig vorgeschriebenen - Überstellung mit Verwaltungszwang, in dem sie der Vollzugsbehörde eine zwangsweise Abholung des Ausländers in seiner Unterkunft oder Wohnung erspart. Kommt der Ausländer einer Aufforderung zur Selbstgestellung nicht nach, entzieht er sich damit (objektiv) nicht dem staatlichen Zugriff. [...]
26 bb) Der wegen Flugunwilligkeit des Klägers abgebrochene Überstellungsversuch am 11. Mai 2018 ist zwar bei der Prüfung des Flüchtigseins zu berücksichtigen ((1)), rechtfertigt aber in der Sache nicht die Annahme, er sei im unionsrechtlichen Sinne flüchtig ((2)).
27 (1) Auch wenn die Beklagte den Überstellungsversuch nicht zum Anlass für eine Verlängerungsmitteilung gegenüber dem zuständigen Mitgliedstaat genommen hat, hat das Berufungsgericht die vom Kläger geäußerte Flugunwilligkeit zu Recht in die Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung einbezogen.
28 Als unbestimmter Rechtsbegriff unterliegt der (unionsrechtliche) Begriff des Flüchtigseins der vollen gerichtlichen Kontrolle. Bei der Überprüfung, ob ein Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der daran anknüpfenden behördlichen Verlängerung der Überstellungsfrist flüchtig war, hat das Gericht deshalb alle objektiv bestehenden Gründe zu berücksichtigen, auch wenn die Behörde die Verlängerungsentscheidung darauf nicht gestützt hat.
29 [...] Der Umstand, dass das Bundesamt im Rahmen seines weiten Verfahrensermessens darüber zu befinden hat, ob die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat ergeht und ob es für die neue Überstellungsfrist die unionsrechtlich eröffnete Höchstfrist von 18 Monaten ausschöpft, macht diese Entscheidung nicht zu einer Ermessensentscheidung im Sinne des § 40 VwVfG, die nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG zu begründen wäre. Liegen (objektiv) die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlängerungsmitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat im Zeitpunkt ihres Ergehens vor, ist eine Verlängerung auf bis zu 18 Monate unionsrechtlich vorgesehen und willkürfrei möglich (BVerwG, Beschluss vom 2. Dezember 2019 - 1 B 75.19 [ECLI:DE:BVerwG:2019: 021219B1B75.19.0] - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- und Asylrecht Nr. 107).
30 (2) Ein wegen Flugunwilligkeit abgebrochener Überstellungsversuch begründet regelmäßig - und so auch hier - aber kein Flüchtigsein im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, weil der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der (zwangsweisen) Durchführung der Überstellung gehindert ist. Ist der Vollzugsbehörde der Aufenthalt des Betroffenen bekannt, kann sie eine zwangsweise Überstellung durchführen. Die durch die Abschiebungsanordnung begründete gesetzliche Ausreisepflicht (§ 50 AufenthG i.V.m. § 67 Abs. 1 Nr. 5 und § 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG) beinhaltet keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung. Der Ausreisepflichtige ist insbesondere nicht zum freiwilligen Betreten eines Beförderungsmittels und zum dortigen Verbleib verpflichtet. Damit fehlt es (objektiv) an einem Sichentziehen. Die möglicherweise vorhandene subjektive Absicht, eine Überstellung zu vereiteln, genügt nicht.
31 Dies gilt jedenfalls, wenn der Betroffene sich - wie hier - lediglich verbal weigert. Mit einer derartigen Reaktion muss die Vollzugsbehörde bei einer staatlich überwachten Überstellung rechnen und entsprechende Vorsorge treffen. Ob in Ausnahmefällen, etwa wenn der Asylbewerber durch Anwendung oder Androhung von Gewalt die Flugsicherheit in einer Art und Weise gefährdet, dass der Pilot eine Beförderung selbst im Falle einer begleiteten Überstellung ablehnt, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil es dafür sowohl an tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsgerichts als auch im Übrigen an entsprechenden Anhaltspunkten fehlt.
32 cc) Im Einklang mit Bundesrecht geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Kläger auch nicht deshalb flüchtig im unionsrechtlichen Sinne ist, weil er der Selbstgestellungsaufforderung vom 14. Mai 2018 nicht Folge geleistet hat.
33 Dabei kann offenbleiben, ob die vorliegend ergangene Selbstgestellungsaufforderung Verwaltungsaktqualität hat und auf welcher Ermächtigungsgrundlage sie beruht. Denn ein Ausländer entzieht sich auch mit der Verweigerung einer aktiven Mitwirkung in Form der Selbstgestellung - unabhängig von der Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens - objektiv nicht dem staatlichen Zugriff. Seine (zwangsweise) Überstellung ist weiterhin tatsächlich und rechtlich möglich. Dies gilt unabhängig davon, ob der Ausländer mit der Nichtbefolgung der Selbstgestellungsaufforderung gegen eine Mitwirkungspflicht zur Förderung seiner Überstellung verstößt oder nicht. Er ist weiterhin bekannten Aufenthalts und offenbart mit seinem Nichterscheinen allenfalls seine Kooperationsunwilligkeit, die bei der (weiteren) Organisation der Überstellung zu berücksichtigen ist. Dagegen ist das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung durch den Ausländer (objektiv) nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs kausal für seine (zumindest vorübergehende) Nichtüberstellbarkeit, weil er auch ohne Selbstgestellung zwangsweise überstellt werden kann. Damit ist er nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO. [...]