VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Gerichtsbescheid vom 22.10.2021 - 3 K 391/17.A - asyl.net: M30140
https://www.asyl.net/rsdb/m30140
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen, gesunden Mann aus Afghanistan:

1. Durch die Machtübernahme der Taliban hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan noch einmal erheblich verschlechtert.

2. Unterstützungsleistungen zur freiwilligen Ausreise nach Afghanistan können derzeit nicht in Anspruch genommen werden und sind daher nicht geeignet, die Existenzsicherung zurückkehrender Personen in Afghanistan zu gewährleisten.

2. Auch für junge, gesunde und alleinstehende Männer ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn sie weder über ein soziales Netzwerk noch erhebliche eigene Vermögenswerte verfügen und zudem nicht in besonderem Maße leistungs- und erwerbsfähig sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, faktischer Iraner, Schiiten, Taliban, freiwillige Ausreise, familiäres Netzwerk,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die in der Vergangenheit gegebene, durch gewalttätige Auseinandersetzungen im ganzen Land gekennzeichnete Sicherheitslage und die der Machtergreifung der Taliban vorangehenden militärischen Auseinandersetzungen haben zu massiven Binnenfluchtbewegungen innerhalb Afghanistans, namentlich in den letzten Wochen, geführt (UNHCR, Afghanistan: Mehr Unterstützung für humanitäre Hilfe dringend benötigt, 20.08.2021, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, 17.08.2021, S. 2; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 16.08.2021, S. 2). Von 3,5 Mio. binnenvertriebenen Menschen wird berichtet (ecoi.net, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, Stand 5. Oktober 2021). Ausweislich eines Berichts von Toney Aseh (UNHCR) vom 15. Oktober 2021 "Hungry and shivering, Kabul displaced brace for bleak Winter" hat sich die Ausbreitung von Hunger nach der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Mitte September hatten nur 5 Prozent der Afghanen genug zu essen, und jeder Dritte befand sich in einer Krise oder in einer Notsituation der Ernährungsunsicherheit. In den letzten zwei Wochen hat danach das UNHCR rund 100.000 Menschen in ganz Afghanistan mit Notunterkünften, Decken, Solarzellen und Bargeld für die Bedürftigsten unterstützt. Insgesamt hat das UNHCR in diesem Jahr bisher mehr als eine halbe Million Vertriebene mit Hilfe erreicht. Nur 35 Prozent der Mittel, die zur Unterstützung der Maßnahmen in den nächsten zwei Monaten benötigt werden, sind — so die Aussage des UNHCR — bisher eingegangen. Obwohl die Kämpfe beendet sind, herrscht weiterhin Unsicherheit, und die Familie haben Angst zurückzukehren. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben sich seit dem Abflauen der Kämpfe rund 156 000 Vertriebene für die Rückkehr in ihre Heimat entschieden. In der vergangenen Woche hat das UNHCR 660 Familien bei der Rückkehr in die nördlichen Regionen des Landes unterstützt. Die Rückkehrer erhalten 200 US-Dollar pro Haushalt für die Transportkosten und weitere 400 US-Dollar für die Wiedereingliederung. Weitere 280 Familien werden bis Ende Oktober in das zentrale Hochland zurückkehren können. Viele der nach Kabul Vertriebenen befürchten jedoch, dass es für sie nur noch wenig gibt, in das sie zurückkehren können, da ihre Häuser und Lebensgrundlagen durch die Kämpfe zerstört wurden. Nach WFP Afghanistan, Stand 13. Oktober 2021 sind 14 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen, 3,2 Millionen Kinder, von akuter Unterernährung bedroht. Von über 9,3 Millionen Begünstigte, die das WFP im Jahr 2021 bisher erreicht hat, wird berichtet. 34 Provinzen erhalten Nahrungsmittel- und Ernährungshilfe. 200 Millionen US-Dollar sind für die Unterstützung bis Dezember 2021 erforderlich; 100 Millionen US-Dollar sind bisher verfügbar.

Zudem droht eine weitere erhebliche Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Afghanistan. Es wird befürchtet, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2021 um 9,7 `)/0 sinken wird und die steigenden Preise sowie der Verfall der Landeswährung die Wirtschaftskrise verstärken werden (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021, a.a.O.). Der Arbeitsmarkt ist angespannt, die Verfügbarkeit an Arbeitsplätzen hat ihren niedrigsten Stand seit Februar 2021 erreicht. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren und Unternehmen sind derzeit aufgrund der Unterbrechung des Bankensystems nicht mehr in der Lage, die täglichen Kosten und die Löhne ihrer Mitarbeiter zu bezahlen (BAMF, Briefing Notes v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin v. 22.8.2021; tolonews.com/bu5ine5s-174505, 4.9.2021). Der Fluss internationaler Finanzmittel wurde gestoppt, so hat u.a. auch Deutschland bereits die Entwicklungshilfen für Afghanistan ausgesetzt. Viele Bankfilialen sind deshalb nach wie vor geschlossen, da sie kein Geld an ihre Kunden auszahlen können (Afghanistan Analysts Network, Report v. 6.9.2021, a.a.O.). Das Land befindet sich nach Einschätzungen des WFP (Situation Report v. 2.9.2021, im Internet allgemein abrufbar unter: reliefweb.intireport/afahanistan/wfp-afghanistan-situation-report-2-2- September-2021) kurz vor einem wirtschaftlichen Kollaps. Hinzukommt, dass die Vereinigten Staaten der Taliban-Regierung den Zugang zu praktisch allen Reserven der afghanischen Zentralbank in Höhe von 9 Mrd. $ (7,66 Mrd. €) verwehrt, die größtenteils in den USA gehalten werden. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban den Zugang zu seinen Mitteln verwehrt (DW 24.8.2021). Da keine neuen Dollarlieferungen zur Stützung der Währung ankommen, ist die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen (DW 24.8.2021).

Dass dies Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung und die Investitionstätigkeit im Lande hat, liegt auf der Hand. Vor einem ökonomischen Kollaps wird gewarnt. Ein normales wirtschaftliches Leben in Afghanistan findet gegenwärtig nicht statt.

Dies alles belegt, dass sich die humanitäre Situation aufgrund der beschriebenen jüngsten Ereignisse als selbst gegenüber der ohnehin schon schwierigen Lage noch weiter zugespitzt hat (UNHCR, Afghanistan: Mehr Unterstützung für humanitäre Hilfe dringend benötigt, 20.08.2021, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation, 17.08.2021, S. 4 f.). Insgesamt ist mithin zu sehen, dass die Fähigkeit, die existenziellen Grundbedürfnisse abzudecken, gerade in der derzeitigen, von großen Unsicherheiten und einem Umbruch geprägten Situation in Afghanistan vor allem von der Anbindung an ein tragfähiges soziales Netzwerk wie die (Groß-) Familie, dem Vorhandensein eigener Vermögenswerte oder einer nachhaltigen finanziellen oder materiellen Unterstützung durch Dritte und der eigenen Leistungs- und Erwerbsfähigkeit und Resilienz sowie dem Umfang des eigenen Bedarfs, einschließlich etwaiger Unterhaltsverpflichtungen, und einer etwaigen Vulnerabilität abhängt (vgl. Hamburgisches OVG, Urt. v. 25.03.2021 - 1 Bf 388/19.A, Rn. 52 ff. über juris; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20, Rn. 105; VG Hamburg, Urt. v. 11.06.2021 - 1 A 1132/19, Rn 64 ff.; VG Freiburg, Urt. v. 05.03.2021 - A 8 K 3716/17, BeckRS 2021, 4316, Rn. 62 ff.).

Vor dem Hintergrund der durch die Erkenntnismittel nachgezeichneten Situation kommt es in diesem Rahmen jeweils auf eine Betrachtung der individuellen Situation des Betroffenen an, wobei auch eine generelle Abhängigkeit der afghanischen Bevölkerung insgesamt von ausländischen Hilfen zumindest streckenweise wahrscheinlich erscheint.

Nach diesen Vorgaben ist vorliegend für den Kläger selbst unter Anlegung des oben dargelegten, strengen Maßstabes eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK gegeben. Im Rahmen einer zwar hypothetischen aber realistischen Betrachtung ist davon auszugehen, dass der Kläger in Afghanistan in Kabul leben würde. Bis zu seiner Ausreise hat er sich nur im Iran aufgehalten und kann nicht auf verwandtschaftliche Bindungen in eine bestimmte Region Afghanistans zurückgreifen. Ein tragfähiges familiäres Netzwerk ist weder in Kabul noch in einer anderen Region Afghanistans vorhanden.

In der gegenwärtigen, von großen Unsicherheiten geprägten Lage und vor dem Hintergrund der skizzierten zahlreichen Schwierigkeiten für die Wirtschaft und die Versorgung bereits mit Grundnahrungsmitteln ist es in Anbetracht der individuellen Situation des Klägers, der über einen auch nach afghanischen Verhältnissen allenfalls durchschnittlichen Bildungsstand verfügt, zumindest beachtlich wahrscheinlich, dass er auf Unterstützungsleistungen Dritter zwingend angewiesen sein würde. Es kann nicht erwartet werden, dass er in absehbarer Zeit eine Erwerbstätigkeit wird ausüben können, die ihm die Bestreitung des eigenen Unterhalts ermöglichen würde.

Insgesamt führt die durch die jüngste Entwicklung noch zusätzlich verschärfte wirtschaftliche und humanitäre Situation in Afghanistan und insbesondere in Kabul dazu, dass der Kläger auch in Anbetracht seiner individuellen Situation in eine prekäre Lage geraten würde, in der es zumindest beachtlich wahrscheinlich erscheint, dass er bereits innerhalb der Zeitspanne von wenigen Wochen den nötigsten Lebensunterhalt nicht mehr zur Verfügung hätte und so ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK vorliegen würde. Er könnte allenfalls auf den Tagelöhnermarkt verwiesen werden, dessen existenzsichernde Funktion schon vor der Machtergreifung der Taliban mit beachtlichen Argumenten verneint wurde (vgl. Schwörer, Gutachten an den VGH Baden-Württemberg, "Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan" dort S. 16 ff. S. 23). Dies konnte nach der Rechtsprechung der Kammer in der Regel durch die bei einer freiwilligen Ausreise zu erwartenden Unterstützungsleistungen als kompensiert angesehen werden. Derartige Hilfen stehen aber derzeit nicht zur Verfügung.

Von daher fehlt es an jeglicher Sicherheit für den Kläger in einem Land, welches von dramatischer Ernährungsunsicherheit betroffen ist, dessen wirtschaftliche Entwicklung mangels internationalem Kapital und solchem, auf das ohne weiteres zurückgegriffen werden kann, darniederliegt und in dem neue politische Strukturen — unabhängig von der gewählten Richtung — nicht effizient angelegt sind. Eine Verelendung ist nach dem hier gebotenen Maßstab bei einer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich. [...]