LSG Sachsen

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Zitieren als:
LSG Sachsen, Urteil vom 11.05.2021 - L 8 AY 9/18 (Asylmagazin 12/2021, S. 447 f.) - asyl.net: M30132
https://www.asyl.net/rsdb/m30132
Leitsatz:

Keine Leistungskürzung bei fehlender Kooperationsbereitschaft der Botschaft bei der Passbeschaffung:

Voraussetzung für die Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG ist, dass die unterbliebene Mitwirkung Betroffener bei der Passbeschaffung allein ursächlich für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist. Die Ursächlichkeit ist anhand eines strengen Prüfungsmaßstabs festzustellen, um dem Ausnahmecharakter der Vorschrift gerecht zu werden. Es fehlt an der Ursächlichkeit, wenn die Botschaft des Herkunftslandes auf Schreiben nicht reagiert und ein Vorantreiben der Abschiebung dadurch selbst vereitelt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialhilfe, Leistungseinschränkung, Leistungskürzung, Mitwirkungspflicht, Passbeschaffung, Kausalität, Aufnahmebereitschaft,
Normen: AsylbLG § 1a,
Auszüge:

[...]

18 Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtswidrig. Die Voraussetzungen einer Leistungseinschränkung gemäß § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 AsylbLG in der vom 24. Oktober 2015 bis zum 5. August 2016 gültigen Fassung lagen im Falle des Klägers nicht vor. Zwar konnten aufenthaltsbeendende Maßnahmen bisher nicht vollzogen werden. Diesen Umstand hat der Kläger aber nicht selbst zu vertreten. Die Landesdirektion Sachsen – Zentrale Ausländerbehörde – hat dem Kläger sowohl die Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten attestiert als auch darauf hingewiesen, dass die mangelnde Kooperation der Botschaft von Bangladesch dessen Abschiebung bisher verhindert habe. [...]

21 Die Sanktionsnorm des § 1a Abs. 3 AsylbLG knüpft an die Verletzung asyl- bzw. ausländerrechtlicher Pflichten durch den Leistungsberechtigten an. Mittelbare Folge dieses pflichtwidrigen Verhaltens ist die verlängerte Inanspruchnahme von Leistungen zur Existenzsicherung nach dem AsylbLG. Die leistungsrechtliche Sanktionierung seines Verhaltens soll den Leistungsberechtigten mittelbar dazu veranlassen, seiner Ausreisepflicht nachzukommen (Cantzler, AsylbLG, 2019, § 1a Rn. 4).

22 Die Voraussetzungen des § 1a Abs. 3 AsylbLG liegen im Falle des – geduldeten – Klägers nicht vor. Dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten, da dieser nicht daran mitgewirkt habe, einen Pass, Passersatz oder ein sonstiges Rückreisedokument zu beschaffen, ist bezogen auf den hier relevanten Leistungszeitraum nicht der Fall. Damit hat der Antragsteller die Vollziehung der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung (§ 58 AufenthG) nicht verhindert. Ein Verstoß gegen § 48 Abs. 3 AufenthG ist nicht ersichtlich. Danach ist der Ausländer dazu verpflichtet, an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken. Diese fehlende Mitwirkung stellt ein typisches rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG dar (BSG, Urteil vom 12.05.2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rn. 15). Nach § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer dazu verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken, sofern er keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der
Ausführung des AufenthG betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Der Mitwirkungspflicht wird unter anderem dadurch entsprochen, dass eine Mitwirkung an der Feststellung und Sicherung der Identität erfolgt oder die für die Beschaffung von Heimreisedokumenten nötigen Erklärungen abgegeben werden (§ 49 Abs. 2 AufenthG). Identitätspapiere sind auch sämtliche für die Rückreise benötigten Papiere. Der Pflicht wird zunächst durch Beantragung genügt (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 Aufenthaltsverordnung [AufenthV]). [...]

27 Allerdings dürfen dem Ausländer keine Handlungen abverlangt werden, die von vornherein ohne Einfluss auf die Möglichkeit der Ausreise oder erkennbar aussichtslos sind. Unterhalb dieser Schwelle besteht hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der Verletzung von Mitwirkungspflichten und der Erfolglosigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen, der immer nur hypothetisch beurteilt werden kann, eine tatsächliche widerlegbare Vermutung zu Lasten des Ausländers (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 18.09 – juris Rn. 20; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Februar 2017 – OVG 3 B 9.16 – juris Rn. 24). [...]

34 Der Senat geht daher – wie bereits der 7. Senat des SächsLSG im Beschluss vom 30. Juni 2011 (Az.: L 7 AY 8/10 B ER – juris Rn. 39) davon aus, dass dem ausreisepflichtigen Ausländer die Abgabe der Freiwilligkeitserklärung zuzumuten ist, wie sie das BVerwG im Urteil vom 10. November 2009 (Az.: 1 C 19/08 – juris Rn. 16) ausgedeutet hat. [...]

42 Der Kläger hat das Fehlen eines Passes, Passersatzes oder Rückreisedokuments bzw. die fehlende Nachregistrierung als den Grund, der seine Ausreise hindert, allerdings nicht selbst zu vertreten. Erforderlich, aber auch ausreichend hierfür ist, dass die den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen hindernden Gründe in den Verantwortungsbereich des Leistungsberechtigten fallen. Insoweit ist zumindest ein persönliches (eigenes) Fehlverhalten des Leistungsberechtigten zu verlangen, wie dies dem § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG ausdrücklich zu entnehmen ist. Einerseits muss also ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten und andererseits die Ursächlichkeit zwischen dem vorwerfbaren Verhalten und der Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorliegen (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 7 AY 7/12 R - BSGE 114, 302 ff Rn. 25).

43 Die Ursächlichkeit zwischen dem vorwerfbaren Verhalten – das umfassend festzustellen ist (siehe oben) – und der Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist streng zu prüfen, um dem Ausnahmecharakter des § 1a AsylbLG als Sanktionsnorm Rechnung zu tragen. Der demnach erforderliche ursächliche Zusammenhang besteht nur, wenn allein die unterbliebene Mitwirkung des Ausländers nach § 48 Abs. 3 AufenthG dazu geführt hat, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht erfolgen konnten. Ist die Ausweisung oder Abschiebung aus anderen als in der Person des Ausländers liegenden Gründen nicht möglich, z.B. wegen Reiseunfähigkeit oder weil sich Botschaften weigern, politisch unliebsamen Antragstellern Reisedokumente auszustellen, oder die Behörde aus sonstigen Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzieht, ist keine Einschränkung des Leistungsanspruchs zu rechtfertigen (BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 – B 7 AY 1/17 R – juris Rn. 27; Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 1a Rn. 40).

44 Der Kläger hat – bezogen auf den streitgegenständlichen Leistungszeitraum - daran mitgewirkt, die notwendigen Rückreisedokumente zu erlangen. Dies hat die Landesdirektion als Zentrale Ausländerbehörde gegenüber dem Beklagten ausdrücklich in der E-Mail vom 6. Januar 2017 bestätigt und darüber informiert, dass aus ihrer Sicht die Mitwirkungspflichten aufgrund der Vorsprache des Klägers in der Botschaft seines Herkunftsstaates am 17. August 2016 nunmehr erfüllt seien. Der Senat teilt diese Einschätzung. Den beigezogenen Verwaltungsakten ist auch nicht zu entnehmen, dass die Ausstellung eines Rückreisedokuments während des streitgegenständlichen Zeitraums gescheitert sein könnte, weil der Kläger keine Anstrengungen unternommen habe, eine Geburtsurkunde zu beschaffen. Die Anhörung vom 19. Mai 2016 enthält ebenfalls keinen Hinweis darauf. Darin wird als gebotene Mitwirkungshandlung lediglich die Vorsprache in der zuständigen Auslandsvertretung sowie das Ausfüllen der Pass-Antragsformulare erwähnt. Soweit der Beklagte in diesem Schreiben ausgeführt hat, dass anzunehmen sei, dass der Kläger gegenüber der Botschaft falsche Angaben gemacht habe und dies darauf zurückführt, dass sich die Botschaft nicht bei der Landesdirektion (Zentrale Ausländerbehörde) gemeldet habe, besteht für diese Zuschreibung kein tatsächlicher Anhalt; zumal die Landesdirektion selbst davon ausgeht, dass das Zusammenwirken mit der Botschaft schwierig sei (dazu sogleich). Es wäre nicht sachgerecht, aus unbelegten Annahmen einschneidende rechtliche Konsequenzen zu ziehen in Form der vorgenommenen Leistungseinschränkung nach § 1a AsylbLG.

45 Darüber hinaus hat die Landesdirektion im Widerspruchsbescheid ausgeführt, dass sich die Korrespondenz mit der Botschaft als äußerst schwierig erweise, da diese auf Schreiben nicht antworte und ein Vorantreiben der Abschiebung unmöglich mache. Dies sei dem Kläger nicht anzulasten, wenngleich er sich nicht erkennbar um seine Ausreise bemüht habe und seiner Ausreisepflicht nicht freiwillig nachgekommen sei. Diesen Formulierungen ist zu entnehmen, dass die Abschiebung des Klägers während des streitgegenständlichen Zeitraums zumindest auch an der – aus Sicht der Landesdirektion – Kooperationsbereitschaft der Botschaft von Bangladesch gescheitert ist. Selbst wenn man (wie der Beklagte) davon ausginge, dass der Kläger seinen Mitwirkungspflichten zur Beschaffung von Rückreisedokumenten nicht nachgekommen sei, fehlte es doch unzweifelhaft am monokausalen Zusammenhang zwischen dem angenommenen Fehlverhalten und der bisher unterbliebenen Abschiebung. Damit bestand kein Anlass dafür, die Grundleistungen des Klägers einzuschränken. [...]