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VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23.09.2019 - 17 K 950/18 - asyl.net: M30117
https://www.asyl.net/rsdb/m30117
Leitsatz:

Ausstellung eines Staatenlosenausweises für aus Syrien stammende Angehörigen der Makhtoumin:

Aus Syrien stammende Angehörigen der Makhtoumin (Kurden aus Syrien ohne/mit ungeklärter Staatsangehörigkeit) haben Anspruch auf Ausstellung eines Staatenlosenausweises. Der Nachweis der Staatenlosigkeit ist nicht als Vollbeweis zu erbringen, sondern ergibt sich aus der Zusammenschau unterschiedlicher Indizien.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Makthoumin, Kurden, Staatenlosigkeit, Reiseausweis für Staatenlose,
Normen: StlÜbk Art. 28, StlÜbk Art. 1 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Verpflichtungsklage ist begründet. Die Beklagte hat die Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose an die Klägerin zu Unrecht abgelehnt und sie hierdurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines entsprechenden Reiseausweises. Rechtsgrundlage für ihr Begehren ist Art. 28 S. 1 des Übereinkommens über die Rechtsstellung von Staatenlosen vom 28. September 1954 - StlÜbk -, das durch Zustimmungsgesetz vom 12. April 1976 (BGBl. II S. 473, in Kraft getreten am 24. Januar 1977, BGBl. II S. 235) in innerstaatliches Recht transformiert worden ist. Nach Art. 28 S. 1 StlÜbk stellen die Vortragsstaaten - so auch die Bundesrepublik - den Staatenlosen, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Hoheitsgebiets gestatten, es sei denn, dass zwingende Gründe der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Bei dem Anspruch aus Art. 28 S 1 StlÜbk handelt es sich, anders als im Fall des S. 2 (Ermessensentscheidung), um einen gebundenen Anspruch.

Die vorgenannten tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose an die Klägerin liegen vor. Die Klägerin hat ihren rechtmäßigen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (dazu unter I.) und sie ist staatenlos (dazu unter II.). Letztlich sprechen auch keine zwingenden Gründe der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung gegen die Erteilung eines Reiseausweises (dazu unter III). […]

II.

Die Klägerin ist auch als Staatenlose i.S.d. Art. 1 Abs. 1 StlÜbk anzusehen.

1. Nach der Legaldefinition des Art. 1 Abs. 1 StlÜbk ist eine Person staatenlos, wenn sie kein Staat auf Grund seines Rechts als Staatsangehöriger ansieht, d. h. eine Person, die de jure staatenlos ist (sog. De-Jure-Staatenloser) (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 1990 - 1 C 15.88 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 6. Juli 2012 - 18 E 1084/11 -, juris Rn. 5 ff. m.w.N. zur Rechtsprechung).

Nicht dagegen unterfallen der Vorschrift des Art. 28 StlÜbk sog. De-facto-Staatenlose. Gemeint sind damit Personen, die auf den Schutz ihres Staates verzichten, ohne dass ihr Staat sie deswegen seinerseits aus der Staatsangehörigkeit entlässt, sowie diejenigen, deren Staat ihnen seinen Schutz verweigert bzw. Personen, die den Schutz ihres Heimatstaates nicht in Anspruch nehmen wollen oder können (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Juli 2012 - 18 E 1084/11 -, juris Rn. 7 ff. m.w.N. zur Rechtsprechung).

Bei der Feststellung der Staatenlosigkeit ist entscheidend, wie die ausländischen staatsangehörigkeitsrechtlichen Vorschriften von den dortigen Behörden und Gerichten tatsächlich angewandt werden (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Juli 2012 - 18 E 1084/11 -, juris Rn. 14 f. m.w.N.).

Der Nachweis der negativen Tatsache der De-Jure-Staatenlosigkeit obliegt dabei grundsätzlich dem Betroffenen; er muss die von ihm behauptete Staatenlosigkeit darlegen und beweisen. Denn die erforderlichen Informationen - etwa die detaillierte Darlegung der Abstammung und die Angaben zu den Vorfahren mit Geburtsdaten, Geburtsorten und Wohnorten - sind grundsätzlich solche aus dem Lebensbereich des Betroffenen und seiner Herkunftsfamilie, die einer Ermittlung von Amts wegen weitgehend nicht zugänglich sind (vgl. VG Hannover, Urteil vom 27. April 2010 - 2 A 6108/08 -, juris Rn. 16).

Hinreichend nachgewiesen ist die Staatenlosigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass die Staaten, als deren Angehöriger der Betroffene überhaupt in Betracht kommt, ihn nicht als Staatenangehörigen ansehen. [...]

a) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Gerichts keine syrische Staatsangehörige.

Sie macht für sich selbst geltend, dass sie wie bereits ihre Eltern in Syrien zur Gruppe der sog. Makthoumin gehört und damit staatenlos sei. Bei den sog. Makthoumin (auch: Maktumin) handelt es sich um eine Gruppe kurdischer Volkszugehöriger sowie deren Nachkommen in Syrien, die infolge der Volkszählung am 5. Oktober 1962 in der kurdischen Region Al-Hasakah in Syrien die syrische Staatsangehörigkeit verloren haben und die in Syrien über keinen rechtlichen Status verfügen. Neben den Makthoumin gibt es in Syrien noch die sogenannten Ajnabi (auch: Adjanib), die "registrierten Ausländer".

Das Auswärtige Amt beschreibt die Lebensumstände dieser beider Personengruppen in seinem "Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Syrien" vom 13. Dezember 2004 (abrufbar über: Migrations-Infologistik - milo -, wie folgt:

"Aufgrund einer Volkszählung im Jahre 1962 wurde ca. 120.000 bis 150.000 Kurden die syrische Staatsangehörigkeit aberkannt. Diese Personen, die sich nach syrischer Rechtsansicht zu diesem Zeitpunkt illegal im Land aufhielten, wurden von den syrischen Behörden fortan als Ausländer und, sofern sie 1962 keine andere Staatsangehörigkeit reklamieren konnten, als staatenlos behandelt. Unter Berücksichtigung des natürlichen Bevölkerungszuwachses geht man inzwischen von rund 300.000 Kurden dieser Gruppe aus. [...]

Der syrische Staat hat diesen sogenannten Ajnabi (Plural Ajaanib; Arabisch für "Ausländer") seit 1962 den Aufenthalt in Syrien gestattet. Für sie wurden und werden seither rot-orangene Karten als eigene Personaldokumente ausgestellt, und es gibt für sie ein eigenes Personenstandsregister, aus dem allerdings seit Anfang 2001 keine Auskünfte mehr erteilt werden. Rechtlich werden die sogenannten Ajaanib wie alle sonstigen Ausländer im Lande behandelt: Ihnen bleiben staatsbürgerliche Rechte verwehrt, doch sie können syrische Schulen und Universitäten besuchen, alle Berufe ausüben und können sich in den staatlichen Krankenhäusern behandeln lassen. Reguläre Reisedokumente erhalten sie nicht. In Ausnahmefällen und unter Zahlung größerer Geldbeträge können Ajaanib ein Laissez Passer beantragen, welches auch zur Wiedereinreise berechtigt. Gesetzlichen Grundlagen fühlen sich die syrischen Behörden bei der Bewilligung oder Verweigerung eines Laissez Passers jedoch nicht verpflichtet. Heiraten ein Mann und eine Frau, die beide im Besitz eines rot-orangenen Ausweises sind, so werden die Kinder aus dieser Verbindung ebenfalls Ajaanib und werden in das syrische Ausländerregister eingetragen.

Anders verhält es sich hingegen bei Kindern aus einer Verbindung zwischen einer syrischen Frau und einem kurdischen Mann, den sogenannten Maktumin, (Singular; Maktum, Arabisch für "verborgen", "verdeckt"). Für sie existiert kein Register. Maktumin haben keinerlei Rechte, können mithin nicht rechtsgeschäftlich handeln. Rechtlich gesehen sind sie für den syrischen Staat inexistent. Ebenfalls zu den Maktumin gehören Kinder, deren Vater Maktum und deren Mutter Syrerin oder Ajnabia ist oder deren Eltern beide Maktumin sind. Die Maktumin erhalten keine rot-orangenen Ausweise; da sie nicht registriert sind. Gegen ein geringes Entgelt können sie durch den Dorf- bzw. Ortsvorsteher (Mukhtar) eine weiße Identitätsbescheinigung erhalten."

In anderen Quellen heißt es zu den Makthoumin, dass all jene Personen, die sich 1962 geweigert hätten, an dem Zensus teilzunehmen, jener Gruppe zuzuordnen seien (vgl. Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation - ACCORD, Antwort vom 16. Januar 217 zu Syrien: Heirat von Staatenlosen usw., abrufbar über milo) bzw. von offizieller syrischer Seite, dass es sich um solche Kurden handeln soll, die erst nach der Volkszählung 1962 nach Syrien eingereist seien (Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe - SFH - vom 3. Juli 2013, Syrien: Staatsbürgerschaft für Ajanib, S. 2, abrufbar über milo).

Insgesamt sei die Volkszählung in großer Eile und willkürlicher Art und Weise erfolgt, so dass es sogar laut Einschätzung der syrischen Regierung bei der Erfassung der Betroffenen mitunter auch zu Fehlern gekommen sei (vgl. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - BfAL -, "Syrien: - Informationen - Staatenlose Kurden", Februar 2002, S. 3, 6, abrufbar über juris).

Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Makthoumin lässt sich daher in der Regel nur aufgrund einer detaillierten Darlegung der Abstammung des sich hierauf Berufenden erweisen, wobei insbesondere genaue und umfassende Angaben zu Zeitpunkt und Ort der Geburt von Eltern und Großeltern sowie ihres gegenwärtigen und vergangenen Aufenthaltsorts zu verlangen sind (OVG NRW, Beschluss vom 3. Juni 2005 - 17 E 552/05 -, juris Rn. 10, Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BAMF vom 2. Januar 2017 - Gz.: 508-9-516.80/48974 -, abrufbar über milo, S. 2).

Den Dorf- bzw. Ortsvorsteherbescheinigungen (sog. Mukthar-BescheinigungenJ, die für Makthoumin die einzigen Identitätspapiere darstellen, welche diese von syrischen Behörden überhaupt erlangen können, kommt hingegen kein oder allenfalls ein geringer Beweiswert zu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Syrien vom 13. Dezember 2004, S. 11, und vom 9. Juli 2009, S. 12, jeweils abrufbar über milo; Gutachten des Deutschen Orient Institutes (DOI) vom 22. Dezember 2003, S. 3, abrufbar über milo, sowie Stellungnahme des DOI im vorliegenden Verfahren vom 3. April 2006 (Bl. 183ff. BA II).

Ein unmittelbarer Beweis der Zugehörigkeit zur Gruppe der Makthoumin kann damit aber letztlich nicht erbracht werden. Vielmehr kann diese Zugehörigkeit nur anhand von Indizien nachgewiesen werden. [...]