VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 30.09.2021 - 25 K 2037/21.A - asyl.net: M30115
https://www.asyl.net/rsdb/m30115
Leitsatz:

Anspruch auf weiteres Asylverfahren wegen Machtübernahme der Taliban:

1. Berufen sich Asylsuchende auf eine Verfolgung durch die Taliban, so stellt die Machtübernahme der Taliban im August 2021 grundsätzlich eine Änderung der Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 VwVfG dar, die nach § 71 Abs. 1 AsylG die Stellung eines Asylfolgeantrags rechtfertigt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es in Bezug auf die individuellen Asylgründe möglich erscheint, dass aufgrund der Machtübernahme der Taliban im Ergebnis eine günstigere Sachentscheidung zu treffen wäre (vorliegend bejaht).

2. Zusätzlich zu den im Verwaltungsverfahren vorgetragenen Gründen können im gerichtlichen Klageverfahren neue und eigenständige Begründungsansätze für das Folgeantragsbegehren vorgetragen werden, die jeweils an den Maßstäben des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG zu messen sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Asylfolgeantrag, Änderung der Sachlage, Taliban, Verwaltungsverfahren, Gerichtsverfahren,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat seinen nach unanfechtbarem Abschluss seines Asyl(erst)verfahrens gestellten Folgeantrag zutreffend auf eine nachträgliche Änderung der Sachlage zu seinen Gunsten gestützt, so dass das Bundesamt ein weiteres Asylverfahren durchzuführen hat. Eine den Kläger begünstigende Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ist nicht nur anzunehmen, wenn im Ergebnis eine günstigere Sachentscheidung zu treffen wäre; es genügt, wenn eine solche möglich erscheint. Dazu ist ein schlüssiger Sachvortrag ausreichend, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung, Flüchtlingszuerkennung oder Zuerkennung des subsidiären Schutzes zu verhelfen [...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat sich die im Fall des Klägers zugrunde zu legende Sachlage durch die neuen Machtverhältnisse in Afghanistan nachträglich dergestalt geändert, dass eine zu seinen Gunsten abweichende Entscheidung möglich erscheint. Diese vorzunehmende (Neu-) Bewertung obliegt (zunächst) dem Bundesamt und darf im vorliegenden Folgeantragsverfahren nicht (abschließend) durch das erkennende Gericht vorgenommen werden. Es ist insoweit eine Sachlagenänderung in Bezug auf die individuellen Asylgründe des Klägers eingetreten, als seit ihrer Machtübernahme am 15. August 2021 nunmehr die radikal-islamischen Taliban die Kontrolle über jedenfalls fast das gesamte Staatsgebiet Afghanistans ausüben (zur von den Taliban (erneut) verkündeten Eroberung auch des Pandschir-Tals vgl. www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-pandschir-101.html, sowie Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Afghanistan: Gefährdung durch die Taliban (2. September 2021), S. 4 und 6 f.).

Das Vorbringen der Eltern des Klägers. wurde in dem seinerzeit geführten Klageverfahren (18 K 6487/15.A) im Hinblick auf einen der gesamten Familie durch Talibankämpfer drohenden ernsthaften Schaden für glaubhaft erachtet. Ausgehend hiervon - und unter erneutem Verweis auf die im Folgeantragsverfahren zu beachtenden Grundsätze und angesichts der vorstehend beschriebenen neuen Sachlage im Verhältnis zu derjenigen, welche dem ablehnenden Bescheid des Bundesamtes vom 7. November 2016 zugrunde lag, hat die Beklagte nunmehr jedenfalls das Schutzbegehren des Klägers - des einzigen Sohnes der Familie - in Bezug auf die Frage einer internen Schutzmöglichkeit für den Kläger neu zu bewerten, und zwar über das Erreichen der Volljährigkeit hinaus - in Bezug darauf, ob ihm in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. Nr. 1 AsylG) sowie einer etwaigen internen Schutzmöglichkeit (vgl. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 2 AsylG).

Diese Sachlagenänderung als erst im gerichtlichen Klageverfahren vorgebrachte Begründung für die Durchführung eines Folgeverfahrens findet vorliegend auch Berücksichtigung. Ein Folgeantragsteller ist nicht gehindert, zusätzlich zu den bei Antragstellung gegenüber dem Bundesamt, mithin im Verwaltungsverfahren, vorgetragenen Gründen weitere (eigenständige) Begründungsansätze für sein Folgeantragsbegehren vorzutragen, welche jeweils an den Maßstäben des § 51 Abs. 1 -3 VwVfG zu messen sind. Diese darf er auch in ein anhängiges gerichtliches (erstinstanzliches) Klageverfahren einführen. Dies folgt (auch) aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wonach maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage derjenige der mündlichen Verhandlung bzw. der gerichtlichen Entscheidung ist (vgl. hierzu ausführlich VG Düsseldorf, Urteil vom 7. September 2021, 25 K 7009/19.A – zur Veröffentlichung vorgesehen).

Der Folgeantrag stößt auch hinsichtlich einer nach § 51 Abs. 3 VwVfG einzuhaltenden Frist von drei Monaten nicht auf Bedenken. Selbst wenn unter den zahlreichen Veränderungen der Sach- bzw. Sicherheitslage in Afghanistan der letzten Monate einzelne Ereignisse herauszugreifen wären, insbesondere in der Machtübernahme der Taliban (auch) in der Stadt Kabul Mitte August 2021 ein derartiger "Qualitätssprung" im Hinblick auf die (mögliche) Gefahrenlage für den Kläger erkannt würde, der es rechtfertigte, einen neuen Fristlauf im Sinne des § 51 Abs. 3 VwVfG in Gang zu setzen (vgl. BVerfG. Beschluss vom 12. Februar 2008, 2 BvR 1262/07, juris (Rn. 15), und selbst wenn die Auffassung vertreten würde, dass sich der Folgeantragsteller auf diese veränderten Umstände ausdrücklich berufen müsste (und angesichts der insbesondere in den letzten Wochen und Monaten erfolgten offenkundigen, massiven und täglichen Veränderungen in Afghanistan dies nicht als bloße Förmelei angesehen würde), so hätte der Kläger diese Frist vorliegend jedenfalls gewahrt, denn er hat sich mit Schriftsatz vom 29. September 2021 (nochmals) ausdrücklich auf die aktuellen Geschehnisse in seinem Herkunftsland berufen. [...]