VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 31.08.2021 - 14 K 6369/17.A - asyl.net: M30112
https://www.asyl.net/rsdb/m30112
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Mann aus Afghanistan:

1. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat sich durch die Covid-19-Pandemie und die Machtübernahme der Taliban noch einmal verschlechtert.

2. Auch für erwachsene, alleinstehende, gesunde und arbeitsfähige Männer ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot festzustellen, wenn keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen.

3. Besondere begünstigende Umstände können bei einem tragfähigen sozialen Netzwerk, nachhaltiger Unterstützung durch Dritte oder erheblichem eigenem Vermögen gegeben sein.

4. Es erscheint ausgeschlossen, dass vorhandene Arbeitserfahrung, die berufliche Qualifikation oder eine besondere Leistungsfähigkeit für sich alleine bewirken, dass eine Person im Falle ihrer Rückkehr dazu in der Lage wäre, aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zu sichern (Änderung der Kammerrechtsprechung).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Taliban, Netzwerk, begünstigende Umstände,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

2. Ausgehend von diesen Maßstäben liegt in der Person des Klägers aktuell und auf absehbare Zeit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor.

a) Zwar war in der Rechtsprechung hinsichtlich der humanitären Situation in Afghanistan vor der Corona-Virus-Pandemie geklärt, dass ein alleinstehender und arbeitsfähiger Mann regelmäßig auch ohne nennenswertes Vermögen bei Rückkehr nach Afghanistan in der Lage war, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, ohne dass es auf ein stützendes Netzwerk in Afghanistan oder einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland ankam (vgl. OVG NRW, Urteil vom 18.6.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris, Rn. 196 (zu Kabul und Herat); OVG Rh.-Pf., Urteil vom 22.1.2020 - 13 A 11356/19 -, juris, Rn. 68 ff. (für Kabul und Mazar-e Sharif); VGH Bad. -Württ., Urteil vom 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 -, juris, Rn. 73 ff., 92 ff., 100 ff. (zu Kabul, Herat und Mazar-e Sharif); BayVGH, Urteil vom 14.11.2019 - 13a B 19.33359 -, juris, Rn. 31 ff. (zu ganz Afghanistan); Hess; VGH, Urteile vom 23.8.2019-7 A 2750/15.A -, juris, Rn. 149, und vom 27.9.2019 - 7 A 1923/14.A -, juris, Rn. 139 ff. (zu ganz Afghanistan); Nds. OVG, Urteil vom 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -. juris, Rn. 55 ff. (zu Kabul, Herat und Mazar-e Sharif)).

Schon vor der Einnahme fast sämtlicher Provinzhauptstädte sowie Kabuls durch die Taliban Anfang bis Mitte August 2021 hielten mehrere Obergerichte, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen, an diesem Grundsatz aber nicht mehr in dieser Allgemeinheit fest Hintergrund hierfür war, dass sich die humanitären Bedingungen in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif - die mit Blick auf Sicherheitslage und ökonomische Grundbedingungen überhaupt für die Ansiedlung eines Rückkehrers aus dem westlichen Ausland in Betracht kamen - durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie weiter verschärft haben und mit einer Verbesserung mittelfristig bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban nicht zu rechnen war (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris, Rn. 1 04; OVG Bremen, Urteil vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 -, juris, Rn. 28; OVG Rh.Pf., Urteil vom 30.11.2020 - 13 A 11421/19 - juris, Rn. 136 ff.; a.A. OVG Hamburg, Urteil vom 25.3.2021 - 1 Bf 388/19.A -, juris, Rn. 65ff.; BayVGH, Urteil vom 7.6.2021 - 13a B 21.30342 -, juris, Rn. 19ff.).

Die Kammer war noch im August 2020 (vor diesen Entscheidungen) zu dem Ergebnis gekommen, dass ein erwachsener, alleinstehender, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der bereits vor seiner Ausreise in Afghanistan gearbeitet hatte, vorbehaltlich etwaiger anderer Besonderheiten in der Person des Betroffenen auch unter Berücksichtigung der Einflüsse der Corona-Pandemie seine Existenz in Kabul sichern konnte (vgl. VG . Köln, Urteil vom 25.8.2020 - 14 K 1041/17.A -, juris, Rn. 67 ff.).

Bereits im März 2021 hatte sich die Kammer im Hinblick auf die Fallgruppe der erwachsenen, alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen Männer, die über keine (nennenswerte) Arbeitserfahrung in Afghanistan verfügen, kein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk haben und keine nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfahren oder über ausreichendes Vermögen verfügen, insoweit der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg, VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris, Rn 105), angeschlossen, als dass diese nahezu keine Aussicht haben, eine zumindest das absolute Existenzminimum sichernde Arbeit (in der Regel als Tagelöhner) zu finden, sofern sie nicht über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügen (vgl. z.B. VG Köln, Urteil vom 25.3.2021 -. 14 K 7043/17.A -, juris, Rn 50 ff.).

b) Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geht die Kammer unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse zu der sehr dynamischen Entwicklung der Lage in Afghanistan insgesamt und damit auch des afghanischen Arbeitsmarktes (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschlüsse vom 15.12.2020 - 2 BvR 2187/20 -, juris, Rn. 2, und vom 9.2.2021 - 2 BvQ 8/21 -, juris, Rn. 8), sowie der anhaltend schlechten sozioökonomischen Lage davon aus, dass auch im Falle eines erwachsenen, alleinstehenden, gesunden und arbeitsfähigen Mannes bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art: 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige begünstigende Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Die Kammer schließt unter den derzeitigen Umständen aus, dass eine vorhandene Arbeitserfahrung in Afghanistan, die berufliche Qualifikation, eine besondere Belastbarkeit oder Durchsetzungsfähigkeit Umstände sind, die für sich allein bewirken, dass ein Rückkehrer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern (vgl. schon vor der Machtübernahme der Taliban VGH Bad.-Württ., Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris, Rn. 45 ff. und 105 ff., mit zahlreichen Nachweisen, u.a. Gutachten der Frau Eva-Catharina Schwörer zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan vom 30.11.2020, S. 15 f.).

Denn die wirtschaftliche bzw. humanitäre Lage in Afghanistan hat sich seit der Entscheidung der Kammer im August 2020 nochmals verschlechtert (unten aa). Dies gilt erst Recht nach der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der NATO-Truppen (unten bb). Die Zuspitzung der humanitären Lage in Afghanistan ist nicht nur ein temporäres Phänomen mit der Aussicht auf alsbaldige entscheidungserhebliche Verbesserung (unten cc). Weder Arbeitserfahrung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt noch eine besondere (ggf. im Ausland erworbene) berufliche Qualifikation, eine besondere Belastbarkeit oder Durchsetzungsfähigkeit sind Umstände, die einen Rückkehrer für sich allein befähigen, sich nach einer Rückkehr auch nur ein Leben am Rande des Existenzminimums aufzubauen. Für den Zugang zum erheblich umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt spielen persönliche Kontakte und lokale Netzwerke eine überragende Rolle (unter dd). [...]