OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.08.2020 - 12 B 18.19 - asyl.net: M30105
https://www.asyl.net/rsdb/m30105
Leitsatz:

Maßgebliches Alter für den Kindernachzug

1. Maßgeblich für das Überschreiten der Altersgrenze für den unbedingten Kindernachzug mit Vollendung des 16. Lebensjahres ist das Alter des Kindes im Zeitpunkt der Antragstellung für das Visum bei der deutschen Auslandsvertretung (Rn. 22).

2. Eine Vorverlagerung auf den Zeitpunkt einer Onlineregistrierung für einen Termin zur Vorsprache bei der Auslandsvertretung zwecks Beantragung eines Visums zum Familiennachzug oder deren elektronischer Bestätigung durch die Botschaft ist weder rechtlich vorgesehen noch geboten (Rn. 24).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Kindernachzug, Altersgrenze, Deutschkenntnisse, Beurteilungszeitpunkt, Visumsantrag, Online-Registrierung, Treu und Glauben, Vertrauensschutz,
Normen: AufenthG § 32, BGB § 242
Auszüge:

[...]

20 [...] Für die Einhaltung der Altersgrenze ist ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, so dass die übrigen Anspruchsvoraussetzungen spätestens auch im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze vorgelegen haben müssen. Danach eingetretene Sachverhaltsänderungen zugunsten des Betroffenen können grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Das nachzugswillige Kind soll ihm an sich zustehende Rechte nicht wegen der Verfahrensdauer allein durch Zeitablauf verlieren, aber auch nicht davon profitieren, dass es Sachverhaltsänderungen zu seinen Gunsten nach Vollendung des 16. Lebensjahres geltend machen kann, die bei rechtmäßiger Bescheidung seines Antrags nie zu einem Anspruch hätten führen können (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – BVerwGE 133, 329, juris Rn. 10 und vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 – BVerwGE 131, 370, juris Rn. 16 f.). Der Kläger kann sich darauf aber nicht berufen, denn er hatte im Zeitpunkt der Antragstellung am 12. Oktober 2018 für das Visum bereits das 16. Lebensjahr vollendet.

21 Das Verwaltungsgericht hat insoweit zu Recht auf das Datum der Antragstellung und nicht auf den Zeitpunkt der Online-Terminregistrierung durch die Mutter des Klägers am 3. März 2018 oder der Registrierungs-Mail der Botschaft vom 21. März 2018 abgestellt.

22 Die Anfrage für einen Termin zur Vornahme einer Rechtshandlung ist nicht gleichbedeutend mit der Vornahme der Rechtshandlung. Allein dieser Grundsatz findet in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. August 2019 (1 C 23.18 - InfAuslR 2019, 432, juris Rn. 28) eine Bestätigung; im Übrigen behandelt die Entscheidung eine Online-Terminvereinbarung bei der Ausländerbehörde für die Beantragung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels, bei der die Behörde bei verspätetem Antrag nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Fortgeltungswirkung des bisherigen Aufenthaltstitels anordnen und im Rahmen einer Online-Terminvereinbarung eine solche Anordnung im Falle der späteren Stellung eines Verlängerungsantrags auch zusagen kann. Insofern fehlt es schon an einer Übertragbarkeit der Ausführungen auf den vorliegenden Fall, denn der Kläger begehrt nicht die Verlängerung eines (befristeten) Aufenthaltstitels, sondern die erstmalige Erteilung eines (nationalen) Visums zum Familiennachzug. Dafür gibt es keine mit § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG vergleichbare rechtliche Grundlage, um der Vereinbarung eines Termins rechtserhaltende Wirkung in Bezug auf eine aufenthaltsrechtliche Höchstaltersgrenze bei späterer Antragstellung beimessen zu können. Sie ist auch nicht notwendig, da der Antrag auf Familiennachzug bei einem Kind, das das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, unbeschadet der üblichen Verfahrensweise deutscher Auslandsvertretungen mit der beschriebenen rechtserhaltenden Wirkung formlos schriftlich gestellt werden kann.

23 Auf die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex, ABl. Nr. L 243, S. 1 ber. ABl. 2013 Nr. L 154 S. 109) kann sich der Kläger für seine Auffassung nicht berufen. Sie legen nach Art. 1 Abs. 1 Visakodex nur Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen fest. Auf nationale Visa für längerfristige Aufenthalte finden sie keine Anwendung. Für eine entsprechende Anwendung der Vorschriften des Visakodex ist angesichts des abweichenden Prüfungsrahmens des nationalen Rechts für längerfristige Aufenthalte kein Raum; insoweit fehlt es sowohl an einer planwidrigen Regelungslücke als auch an einer Übertragbarkeit der Verfahrensregelungen für die Bearbeitung von Anträgen auf Schengen-Visa.

24 Die – wie dargestellt formlos – mögliche Antragstellung kann aus Sicht eines verständigen Empfängers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte (§§ 133, 157 BGB) auch nicht bereits in der Online-Registrierung für einen Vorsprachetermin oder deren Bestätigung gesehen werden. Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, dass schon die im Rahmen der Registrierung abgefragten Informationen für den Mindestgehalt eines Visumantrags nicht ausreichend sind. Allenfalls kann der Registrierung entnommen werden, dass die Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung bei der persönlichen Vorsprache beabsichtigt wird, ohne dass aber im Einzelnen erkennbar würde, zu wem der Nachzug auf welcher Rechtsgrundlage erfolgen soll. Auch der Kläger selbst verweist insoweit, was die Familienzusammenführung angeht, auf die zusätzliche Information, dass die Botschaft seinem Vater zuvor schon ein Visum erteilt habe; er lässt dabei außer Acht, dass in dem automatisierten Verfahren der Terminregistrierung diese Information nicht abgefragt und nicht in einen Zusammenhang mit dem Begehren gebracht wird, für das die Registrierung erfolgt. Die Angabe des Geburtsdatums eines kurz vor Vollendung des 16. Lebensjahres stehenden Kindes allein lässt ebenfalls keinen zwingenden Rückschluss darauf zu, dass ein Familiennachzug nur unter Berücksichtigung der Altersgrenze nach § 32 Abs. 1 AufenthG beabsichtigt wird.

25 Schließlich kommt auch eine Behandlung des Klägers in der Weise, als habe er seinen Visumantrag vor Vollendung des 16. Lebensjahres gestellt, auf der Grundlage des auch im öffentlichen Recht anwendbaren allgemeinen Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht in Betracht. Im Rahmen des Registrierungsverfahrens hat die Botschaft keinen Vertrauenstatbestand geschaffen, was die inhaltliche Behandlung des Nachzugsbegehrens angeht. Auf eine Verletzung von allgemeinen Beratungs- und Auskunftspflichten im Sinne des § 25 Abs. 2 VwVfG kann sich der Kläger ohnehin nicht berufen, da das Verwaltungsverfahrensgesetz für die Tätigkeit der Vertretungen des Bundes im Ausland nicht gilt (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 VwVfG). Ein Vertrauenstatbestand ergibt sich insbesondere nicht daraus, dass die Auslandsvertretung in Sarajewo nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auf ihrer Webseite die Stellung eines Antrags in einem Termin zur persönlichen Vorsprache als alternativlos darstellt und auch nicht darüber informiert, dass bei drohender Überschreitung von Altersgrenzen Sondertermine vergeben werden können. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es zu den Obliegenheiten des Nachzugswilligen bzw. seiner Sorgeberechtigten gehört, sich über die zu erfüllenden Nachzugsvoraussetzungen zu informieren und diesbezüglich gegebenenfalls Erkundigungen einzuholen, was insbesondere dann, wenn sich ein Familienmitglied bereits in Deutschland befindet, ohne Schwierigkeiten möglich sein sollte. Unter diesen Umständen hätten die Eltern des Klägers unbeschadet des Fehlens einer allgemeinen Information seitens der Botschaft in Sarajewo erkennen können, dass der Nachzug von Kindern über 16 Jahren an weitere Voraussetzungen gebunden ist und zusätzliche Nachweise im Verfahren erfordert. Auf konkrete Nachfrage hätten sie die Eilbedürftigkeit der Antragstellung bezüglich des Klägers in Erfahrung bringen können. Gegen die Beklagte kann nach den Feststellungen zum Verfahren daher nicht der Vorwurf eines arglistigen Verhaltens erhoben werden, der ihr im konkreten Zusammenhang die Berufung auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Antragstellung am 12. Oktober 2018 versagen würde. Weder hat sie die Mutter des Klägers unrichtig über die Wirkungen der Online-Registrierung informiert, noch hat sie eine erkennbar vorhandene Fehlvorstellung der Eltern des Klägers über den Kindernachzug bezüglich des Klägers unterhalten. Vielmehr durfte die Auslandsvertretung davon ausgehen, dass die Höchstaltersgrenze für den unbedingten Nachzugsanspruch von Kindern allgemein bekannt ist. Weitere Obliegenheiten über die Bestätigung der Registrierung und spätere Mitteilung eines Vorsprachetermins hinaus trafen die Beklagte nicht. Es sind auch keine Umstände im Fall des Klägers ersichtlich, die sie zu besonderer Fürsorge ihm gegenüber als Kind verpflichtet hätten. Die allgemeinen Obliegenheiten nachzugswilliger Ausländer müssen deutsche Auslandsvertretungen nicht ungefragt von sich aus wahrnehmen. [...]