VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 10.09.2021 - 33 L 204/21 A - asyl.net: M30096
https://www.asyl.net/rsdb/m30096
Leitsatz:

Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die Einstufung als Zweitantrag:

"Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, ob ein Zweitantrag vorliegt, ist die Asylantragstellung im Bundes­gebiet."

(Amtlicher Leitsatz; anschließend an VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 01.03.2021 - 10 L 31/21.A - asyl.net: M29488)

Schlagwörter: Zweitantrag, Zulässigkeit, Unzulässigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Asylantrag, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a,
Auszüge:

[...]

6 Es bestehen ernstliche Zweifel, dass die Voraussetzungen für die von der Antragsgegnerin auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a Abs. 1 AsylG vorgenommene Ablehnung des Asylantrages als unzulässiger Zweitantrag vorliegen. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht  durchzuführen ist. Ein Zweitantrag liegt nach § 71a Abs. 1 AsylG vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt. Er hat zur Folge, dass ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen ist, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.

7 Der Antragsteller hat seinen Asylantrag im Bundesgebiet nicht nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat gestellt. Ein erfolgloser Abschluss im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrages beziehungsweise dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 29). Maßgeblicher Zeitpunkt für den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat ist die Antragstellung in Deutschland und nicht der eines etwaigen späteren Zuständigkeitsübergangs auf Deutschland (vgl. u.a. VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 1. März 2021 - 10 L 31/21.A - juris Rn. 18; VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 30. April 2020 - VG 9 L 662.18 A - S. 5 f. des amtlichen Abdrucks und Beschluss vom 24. Juli 2019 - VG 25 L 292.19 A - S. 3 des amtlichen Abdrucks; VG Regensburg, Urteil vom 8. August 2018 - RN 12 K 18.31824 - juris Rn. 21; a.A. OVG Bremen, Urteil vom 3. November 2020 - 1 LB 28/20 - juris Rn. 32; VG Oldenburg, Beschluss vom 1. März 2021 - 15 B 1052/21 - juris Rn. 8 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 24. April 2020 - 3 K 104/17 - juris Rn. 23; VG München, Beschluss vom 1. April 2020 - M 13 S 19.33925 - juris Rn. 19 ff.; VG Hannover Beschluss vom 7. Februar 2019 - 3 B 217/19 - juris Rn. 33; offen gelassen BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - BVerwG 1 C 4.16 - juris Rn. 40). Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut von § 71a Abs. 1 Halbs. 1 AsylG ("Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat, …, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), …"). Der Gesetzgeber hat den Zweitantrag definiert. Voraussetzung für einen Zweitantrag ist, dass der Ausländer nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat im Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt hat (vgl. zur Wortlautgrenze bei der Auslegung bspw. BVerwG, Urteil vom 27. März 2014 - BVerwG 2 C 2.13 - juris Rn. 15). Hätte der Gesetzgeber regeln wollen, dass Voraussetzung für einen Zweitantrag ist, dass das in einem sicheren Drittstaat betriebene Asylverfahren bis zum Zuständigkeitsübergang erfolglos abgeschlossen ist, hätte er dies im Gesetzestext oder jedenfalls in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck bringen können. Dies hat er nicht getan. Die Gesetzesbegründung verhält sich zur Frage, wann ein Zweitantrag vorliegt, nicht. Ihr ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber auch dann vom Vorliegen eines Zweitantrages ausgeht, wenn das Asylverfahren im sicheren Drittstaat erst nach Antragstellung in Deutschland abgeschlossen wird (vgl. BT-Drs. 12/4450 S. 8, 27).

8 Die auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsüberganges abstellende Gegenauffassung überzeugt nicht. Das vom Bundesamt für die Gegenauffassung vorgebrachte Argument, wonach der Zuständigkeitsübergang deshalb Voraussetzung für einen Zweitantrag sei, weil jeder vor dem Zuständigkeitsübergang gestellte Asylantrag vorrangig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen sei (vgl. den Vermerk des Bundesamtes vom 22. März 2021 in der Asylakte), widerspricht der Legaldefinition des Zweitantrages. Für die Frage, ob ein Zweitantrag vorliegt, kommt es auf den Zuständigkeitsübergang nicht an. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verhält sich dazu auch nicht. Die Vorschrift findet im Einklang mit Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin III-VO auf die Zweitanträge Anwendung, für die die Bundesrepublik Deutschland bisher nicht zuständig geworden ist.

9 Soweit die Gegenauffassung zudem unter Verweis auf den Zweck von § 71a AsylG anführt, die Vorschrift solle verhindern, dass ein Ausländer nach Abschluss des Asylverfahrens im sicheren Drittstaat seine bereits geprüften Asylgründe erneut im Bundesgebiet zur Prüfung stellen kann, wird dieses Ziel durch das Abstellen auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitsübergangs nicht erreicht. Der Gesetzgeber hat mit § 71a Abs. 1 AsylG gerade keine Regelung für alle Ausländer mit abgeschlossenen Asylverfahren in sicheren Drittstaaten getroffen. Denn auch diejenigen Ausländer, deren Asylverfahren im sicheren Drittstaat erst nach Zuständigkeitsübergang erfolglos abgeschlossen worden sind (denkbar sind die Zeitpunkte der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung in Deutschland, vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 1. August 2021, § 71a AsylG Rn. 19), können ihre bereits geprüften Asylgründe in Deutschland erneut zur Prüfung stellen, weil sie die Voraussetzungen von § 71a Abs. 1 AsylG – selbst nach der dem Wortlaut dieser Vorschrift zuwiderlaufenden Auffassung – nicht erfüllen.

10 Das Asylverfahren des Antragstellers in Estland und damit in einem sicheren Drittstaat (§ 26 a Abs. 1 S. 1 AsylG, Art. 16a Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG), für den die unionsrechtlichen Bestimmungen der Dublin III-VO gelten, war im Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages in Deutschland am 15. Juli 2020 noch nicht unanfechtbar abgeschlossen. Es endete nach Angaben der estnischen Behörden erst im September 2020. [...]