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OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 08.06.2021 - 3 B 181/21 - asyl.net: M30088
https://www.asyl.net/rsdb/m30088
Leitsatz:

Keine inzidente Prüfung von Abschiebungsverboten bei "Duldung light":

1. Bei der Feststellung einer Verletzung von Mitwirkungspflichten bei Erteilung einer Duldung "für Personen mit ungeklärter Identität" nach § 60b AufenthG ist nicht inzident zu prüfen, ob hinsichtlich des Herkunftslandes Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.

2. Es ist unerheblich, ob der betroffenen Person eine eigenmächtige freiwillige Ausreise möglich ist. Entscheidend ist lediglich, ob die Abschiebung infolge einer Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht vollzogen werden kann. Es ist offen, ob die Verletzung der Mitwirkungspflicht allein für die Nichtvollziehbarkeit der Abschiebung ursächlich sein muss oder ob eine Mitursächlichkeit ausreicht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Passbeschaffung, Kausalität, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, Passersatz, Mitwirkungspflicht, Libyen, Abschiebungshindernis, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60b Abs. 1, § 60b Abs. 2 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

12 a) Zutreffend hat das Verwaltungsgericht das Antragsbegehren des Antragstellers dahingehend ausgelegt, dass, hinsichtlich des Zusatzes "für Personen mit ungeklärter Identität" der Duldung vom 10. Dezember 2020 von einer selbständig anfechtbaren Nebenbestimmung nach § 36 Abs. 1 VwVfG (SächsOVG, Beschl. v. 3. Juni 2021 - 3 B 164/21 -, zur Veröffentlichung bei juris vorgesehen; Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Loseblatt-Sammlung Stand: Februar 2021 § 60b Rn. 2) auszugehen und einstweiliger Rechtsschutz insoweit mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO nachzusuchen (SächsOVG a.a.O. m.w.N.) sowie ergänzend ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO auf Erteilung einer Duldung nach § 60a AufenthG ohne den vorgenannten einschränkenden Zusatz zu stellen ist (SächsOVG a.a.O. m.w.N). In diesem Sinne legt der Senat auch das Beschwerdebegehren des Antragstellers aus, vgl. § 88 VwGO.

13 Soweit man zwischenzeitlich das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers hinsichtlich seines Antrags nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO in Zweifel ziehen könnte, da die am 10. Dezember 2020 erteilte Duldung bis zum 4. Juni 2021 befristet war und er mit einer Anordnung einer aufschiebenden Wirkung seines hiergegen erhobenen Widerspruchs seine Rechtsposition nicht mehr verbessern könnte, kann der Senat dies dahinstehen lassen, denn jedenfalls hat der Antragsteller bei der gebotenen summarischen Prüfung und auch unabhängig von der Frage, ob bei vorläufiger Erteilung der von ihm begehrten Duldung eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache bewirkt würde, auch derzeit keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung ohne den Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität". Die Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen Duldung liegen nach § 60b Abs.1 AufenthG vor. Danach ist eine Duldung mit dem Zusatz "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" auszustellen, wenn bei einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt oder zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht vorgenommen wurden.

14 b) Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde geltend macht, dass ihn nach § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Mitwirkungspflicht treffe, da Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorlägen, folgt ihm der Senat nicht.

15 Zwar trägt der Antragsteller mit seiner Beschwerde umfangreich zum Bestehen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vor, aber er verkennt, dass das Verwaltungsgericht selbständig tragend darauf verwiesen hat, dass das Bundesamt bestandskräftig und in einer die Antragsgegnerin bindenden Form über das Nichtbestehen derartiger Abschiebungsverbote entschieden hatte. Insoweit setzt er sich schon nicht in einer Weise mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts auseinander, die den Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu einer näheren Prüfung veranlassen würde. Unabhängig davon sind die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesamts auch nicht zu beanstanden. Eine Inzidenzprüfung hinsichtlich des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Rahmen des § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG verbietet sich daher nach § 42 Satz 1 AsylG im vorliegenden Fall (Wittmann/Röder, ZAR 2019, 363, 366; Funke-Kaiser a.a.O. Rn. 11 ff.; vgl. Kluth, in: ders./Heusch, BeckOK, Ausländerrecht, 29. Ed., Stand: 1. Januar 2021, § 60b AufenthG Rn. 26).

16 c) Nachdem derzeit trotz Abweichungen beim Vornamen des Antragstellers bei der von ihm vorgelegten Reisepasskopie (Bl. 239 der Behördenakte) von dem im Asylverfahren und bei der Antragsgegnerin erfassten Personendaten keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht oder falsche Angaben getätigt haben könnte, und dies auch von der Antragsgegnerin nicht geltend gemacht wird, war das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Antragsteller nicht alle zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht vorgenommen hat. Dem tritt der Antragsteller im Rahmen seiner Beschwerde nicht entgegen, so dass sich vor dem Hintergrund von § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO weitere Ausführungen erübrigen. Unabhängig davon bestehen auch keine Zweifel, dass der hinreichend belehrte Antragsteller seine Mitwirkungspflichten nicht verletzt haben könnte (vgl. zum Umfang der behördlichen Hinweispflichten im Einzelnen SächsOVG a.a.O. m.w.N.). Denn er ist nicht nur seit dem Jahr 2017 und seither vielfach auf die Notwendigkeit seiner Mitwirkung bei der Passbeschaffung hingewiesen worden, sondern ihm war auch explizit erklärt worden, dass er sich ein Passersatzpapier zu besorgen habe, was seinem Vertreter mit E-Mail der Antragsgegnerin vom 28. September 2020 auch noch näher erläutert worden war. Dass er seither - oder vorher - Aktivitäten zur Erlangung eines entsprechenden Passersatzpapiers unternommen habe, macht er schon selbst nicht geltend. Soweit sein Beschwerdevortrag so zu verstehen sein soll, dass er nicht verpflichtet sei, sich ein Laissez-passer zu besorgen, so verkennt er, dass dieses nicht gleichzusetzen ist mit einem von seinem Herkunftsstaat ausgestellten Passersatzdokument.

17 c) Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerde rügt, dass auch eine "etwaig(e) Verletzung (seiner) Mitwirkungspflichten" nicht ursächlich für die "Unmöglichkeit (seiner) Ausreise" sei, vermag er damit ebenfalls nicht durchzudringen.

18 Zunächst kommt es nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes schon nicht darauf an, ob der Antragsteller auch mit einem Pass oder Passersatzdokument nicht (freiwillig) ausreisen kann, sondern ob eine Abschiebung, also das Zwangsmittel zur Beendigung eines unrechtmäßigen Aufenthalts, infolge der Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht vollzogen werden kann. Da der Antragsteller (andere) Abschiebehindernisse, welche fehlende finanzielle Eigenmittel ersichtlich nicht darstellen, nicht vorträgt oder sich auf diese nicht mit Erfolg berufen kann, kann der Senat auch dahinstehen lassen, ob die Verletzung der Mitwirkungspflicht allein für die Nichtvollziehbarkeit der Abschiebung ursächlich sein muss (Kluth, a.a.O. Rn. 16; Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 19ff.; Wittmann/Röder, a.a.O. S. 363; Eichler/Mantel, in: Huber/ders., Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl. 2021 § 60b AufenthG Rn. 4) oder ob eine Mitursächlichkeit (Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60b AufenthG Rn. 10; Hailbronner in: ders., Ausländerrecht, Loseblatt-Sammlung, Stand: März 2020, § 60b Rn. 6 f.; Thym, ZAR 2019, 353, [355]) reicht. [...]