OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 06.10.2021 - 2 LC 23/21 - asyl.net: M30079
https://www.asyl.net/rsdb/m30079
Leitsatz:

Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch das Kind einer assoziationsberechtigten Person aus der Türkei:

"Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 ist "unbefristet" im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StAG [§ 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StAG n.F.]."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, deutsche Staatsangehörigkeit, Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt, unbefristete Aufenthaltserlaubnis,
Normen: StAG § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, StAG § 4, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, StAG § 30, AufenthG § 4 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihre deutsche Staatsangehörigkeit feststellt. Der Bescheid vom 2. April 2019, der feststellt, dass die Klägerin die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt erworben habe, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 30 Abs. 1 Satz 1 StAG auf Feststellung, dass sie deutsche Staatsangehörige ist. [...]

2. Die Klägerin ist deutsche Staatsangehörige.

a) Die Klägerin hat die deutsche Staatsangehörigkeit mit ihrer Geburt gemäß § 4 Abs. 3 StAG erworben. Dabei kommt es auf die zum damaligen Zeitpunkt geltende Fassung der Norm an, die allerdings im Vergleich zur heute geltenden Fassung ohnehin keine für den Fall relevanten Unterschiede aufweist.

Nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG erwirbt – soweit die Vorschrift hier relevant ist – ein Kind ausländischer Eltern durch Geburt im Inland die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn ein Elternteil (Nr. 1) seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat und (Nr. 2) ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. [...]

dd) Der Vater besaß im Zeitpunkt der Geburt der Klägerin ein unbefristetes Aufenthaltsrecht (§ 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StAG).

Zwar verfügte er über keinen unbefristeten Aufenthaltstitel. Seine Aufenthaltserlaubnis war bis zum 15.06.2021 befristet. Eine Niederlassungserlaubnis oder eine Daueraufenthaltserlaubnis-EU besaß er nicht.

Jedoch hatte der Vater im Zeitpunkt der Geburt der Klägerin ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 inne, da er seit dem Jahr 2010 – und damit sogar länger als vier Jahre – ordnungsgemäß bei demselben Arbeitgeber auf dem regulären deutschen Arbeitsmarkt beschäftigt war. Dies hat die Ausländerbehörde der Beklagten mit Schreiben vom 4. April 2018 (Bl. 25 der Staatsangehörigkeitsakte) bestätigt. [...]

Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 ist "unbefristet" im Sinne des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StAG [...].

(1) Ein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 ist im wörtlichen Sinne "unbefristet".

Eine "Befristung" liegt vor, wenn Rechtswirkungen zu einem datumsmäßig bestimmten oder bestimmbaren Zeitpunkt oder mit dem Eintritt eines sicher eintretenden zukünftigen Ereignisses beginnen oder enden. [...]

Das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erlischt, wenn der türkische Staatsangehörige ausgewiesen wird (Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80), wenn er den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates endgültig verlässt (EuGH, Urt. v. 06.06.1995 – C-434/93, juris Rn. 39) oder wenn er die türkische Staatsangehörigkeit verliert [...]. Der Eintritt dieser Ereignisse ist weder datumsmäßig bestimmt oder bestimmbar noch gewiss (vgl. für das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 auch OVG Bremen, Urt. v. 08.12.2015 – 1 LC 18/14, juris Rn. 29). [...]

(2) Sinn und Zweck des § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StAG sowie ein Vergleich mit den übrigen von der Vorschrift erfassten Aufenthaltsrechten sprechen ebenfalls für die Einstufung des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 als "unbefristetes Aufenthaltsrecht".

Das Erfordernis eines unbefristeten Aufenthaltsrechts eines Elternteils soll sicherstellen, dass nur Kinder eines Ausländers, dessen Aufenthalt sich "in Gestalt eines Daueraufenthaltsrechts rechtlich verfestigt" hat, durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben (BVerwG, Urt. v. 26.04.2016 – 1 C 9/15, juris Rn. 28). Anders als das Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 [...] weist das Aufenthaltsrecht aufgrund des dritten Spiegelstrichs einen hohen Verfestigungsgrad auf. Es ähnelt diesbezüglich dem Freizügigkeitsrecht der noch nicht daueraufenthaltsberechtigten Arbeitnehmer aus EU-Mitgliedstaaten und ihrer drittstaatsangehörigen Familienangehörigen. [...]

(4) Nicht entscheidend ist, dass nach nationalem Recht den Inhabern eines Rechts aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 kein unbefristeter Aufenthaltstitel, sondern eine befristete Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 4 Abs. 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG) erteilt wird. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht wird nicht durch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis begründet, sondern steht den Betroffenen unmittelbar aufgrund des ARB 1/80 zu. Der Aufenthaltstitel hat nur deklaratorische Wirkung und Beweisfunktion (EuGH, Urt. v. 16.03.2000 - C-329/97, juris Rn. 61 f.; Urt. v. 26.11.1998 – C-1/97, juris Rn. 65). [...]