VG Potsdam

Merkliste
Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 29.09.2021 - 6 L 411/21.A - asyl.net: M30077
https://www.asyl.net/rsdb/m30077
Leitsatz:

Rechtmäßige Einstufung als Zweitantrag trotz verweigerter Akteneinsicht und fünfjähriger Verfahrensdauer:

1. Verweigert das Bundesamt im Verfahren die Akteneinsicht, so führt dies nur dann zur formellen Rechtswidrigkeit eines später erlassenen Bescheides, wenn dargelegt wird, dass der Verfahrensfehler die Entscheidung in der Sache beeinflusst haben könnte.

2. Eine Einordnung als Zweitantrag im Sinne von § 71a AsylG kommt auch dann in Betracht, wenn zwischen Asylantragstellung in der Bundesrepublik und Entscheidung mehr als fünf Jahre vergehen. 

3. Auch unter Einbezug des Kindeswohls und der Rückführungsrichtlinie ist eine Abschiebungsandrohung nicht aus dem Grund rechtswidrig, weil die Abschiebung zu einer Familientrennung führen würde. Es ist ausreichend, wenn die familiären Umstände anschließend bei der Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse durch die Ausländerbehörden berücksichtigt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Zweitantrag, Akteneinsicht, rechtliches Gehör, Vorratsentscheidung, Zielstaat, Zielstaatsbezeichnung, Kindeswohl, Abschiebungsandrohung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Rückführungsrichtlinie, Verfahrensdauer,
Normen: AsylG § 71a, VwVfG § 29, VwVfG § 46, AsylG § 34, AufenthG § 59, RL 2008/115/EG Art. 5,
Auszüge:

[...]

(1) Entgegen der Ansicht des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers ist die Entscheidung nicht aufgrund der erst mit Bescheidzustellung erfolgten Akteneinsicht in die Asylverfahrensakte formell rechtswidrig. Das Vorgehen des Bundesamts erscheint zwar bedenklich und dürfte einen Verfahrensfehler begründen. Gleichwohl ist weder substantiiert dargelegt, noch sonst ersichtlich, dass der etwaige Verstoß gegen § 29 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) das Ergebnis des Verfahrens beeinflusst haben könnte. Es ist bis zum heutigen Tag nicht dargetan, welcher Vortrag zu den Asylgründen bei rechtzeitiger Kenntnis des Inhalts der Akte, die insoweit nichts wesentliches aufweist, erfolgt wäre. Nach Ansicht der Kammer ist vielmehr offensichtlich, dass der etwaige Verfahrensverstoß die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat, so dass von einer Unbeachtlichkeit nach § 46 VwVfG auszugehen ist. Zudem ist der etwaige Verfahrensfehler durch die bereits mit Bescheidzustellung und ergänzend im gerichtlichen Verfahren erfolgte Akteneinsicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVFG analog geheilt (vgl. dazu Kopp/Ramsauer, 20. Auflage, § 45, Rn. 24).

(2) Die Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag vom 28. Mai 2015 als Zweitantrag nach § 71a Abs. 1 AsylG zu behandeln, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung durch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid an, auf den zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 77 Abs. 2 AsylG verwiesen wird.

Soweit der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers unter Hinweis auf Art. 12 Abs. 1 lit. e) der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU), wonach die Antragsteller innerhalb einer angemessenen Frist von der Entscheidung der Asylbehörde über ihren Antrag in Kenntnis gesetzt werden sollen, sinngemäß moniert, dass nach fünf Jahren zwischen Antragstellung in Deutschland und Bescheidung des Antrags eine Einordnung als Zweitantrag ausscheide, greift er damit nicht durch. Nach der semantischen und systematischen Auslegung dürfte die Verfahrensgarantie des Art. 12 der Asylverfahrensrichtlinie bereits nicht die Entscheidungsfrist, sondern nur die Bekanntgabefrist betreffen. Überdies besteht für die seitens des Prozessbevollmächtigten sinngemäß vorgetragene Einordnung als neuen Erstantrag aufgrund Zeitablaufs auch kein Bedürfnis. Zum einen besteht die Möglichkeit der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO, sofern das Bundesamt ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich über den Antrag nicht entschieden hat (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 11. Juli 2018 – 1 C 18/17 –, juris; vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. März 2019 – OVG 2 L 32.18 –, juris). Überdies besteht für den Antragsteller kein Nachteil, da alle während der monierten Frist auftretenden Änderungen nach Maßgabe von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vom Bundesamt zu berücksichtigen sind. [...]

b) Ernstliche Zweifel bestehen zudem auch nicht hinsichtlich der in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides tenorierten und auf § 34 AsylG i.V.m. § 59 des Aufenthaltsgesetztes (AufenthG) gestützte Abschiebungsandrohung selbst. [...]

Nach nationalem Recht steht dem Erlass einer Abschiebungsandrohung auch nicht ein schutzwürdiges Interesse an der Vermeidung einer Trennung von Familienangehörigen entgegen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vielmehr geklärt, dass bei der Beendigung des Aufenthalts erfolgloser Asylbewerber das Bundesamt auf die Prüfung und Feststellung von sog. zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG beschränkt ist, die sich der Sache nach aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und damit in Gefahren begründet sind, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Nur insoweit kann das Bundesamt im verwaltungsgerichtlichen Asylrechtsstreit zur Feststellung von Abschiebungsverboten verpflichtet werden. Die Ausländerbehörde bleibt demgegenüber für die Durchführung der Abschiebung und dabei auch für die Entscheidung über alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Vollstreckungshindernisse zuständig. Zu den ausschließlich von der Ausländerbehörde zu prüfenden Vollstreckungshindernissen zählen beispielsweise fehlende Ausweise oder Ersatzpapiere, krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit, aber auch ein etwaiges Verbot, durch die Abschiebung eine mit Art. 6 GG nicht vereinbare Trennung von Familienmitgliedern zu bewirken. Nach der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist damit geklärt, dass etwaige schutzwürdige Interessen an der Vermeidung einer Trennung von Familienangehörigen, etwa durch Abschiebung in unterschiedliche Staaten nicht Gegenstand der Prüfung durch das Bundesamt sind und damit der von ihr nach § 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 2 AufenthG verfügten Bestimmung des Zielstaats der Abschiebung nicht entgegenstehen. Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weiter geklärt, dass das Bundesamt auch in Fällen, in denen aus tatsächlichen Gründen wenig oder keine Aussicht besteht, den Ausländer in absehbarer Zeit abschieben zu können, ermächtigt und regelmäßig gehalten ist, eine "Vorratsentscheidung" zum Vorliegen von Abschiebungsverboten in Bezug auf bestimmte Zielstaaten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu treffen und diese auch in der Abschiebungsandrohung zu bezeichnen. Damit wird dem Asylsuchenden die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung eröffnet und insoweit eine frühzeitige Klärung herbeigeführt. Das Bundesamt darf in der Abschiebungsandrohung auch einen Zielstaat bezeichnen, für den aus tatsächlichen Gründen wenig oder keine Aussicht besteht, den Ausländer in absehbarer Zeit abschieben zu können, wenn für ihn keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote bestehen (zu alledem: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 10. Oktober 2012 – 10 B 39.12 –, juris). [...]

(3) Die Abschiebungsandrohung erweist sich auch nicht unter Berücksichtigung der jüngsten EuGH-Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 5 lit a) Rückführungsrichtlinie und der familiären Bindungen nach Art. 5 lit. b) Rückführungsrichtlinie als unionsrechtswidrig. Nach Ansicht der Kammer ist dem Unionsrecht – insbesondere nach der Auslegung in den Urteilen des EuGH vom 11. März 2021 – C-112/20 –, juris, Rn. 25 ff. (M.A.-Belgien), und vom 14. Januar 2021 – C-441/19 –, juris, Rn. 43 ff. (TQ-Niederlande) – nicht zu entnehmen, dass die Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung i.S.d. der Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) zum Schutz eines Minderjährigen im vorliegenden Fall unterbleiben müsse.

Die Frage, ob sich aus der neueren Rechtsprechung des EuGH ergebe, dass inlandsbezogene Abschiebungsverbote wie z. B. schutzwürdige Interessen an der Vermeidung einer Trennung von Familienangehörigen bei der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen seien, wird zwar in der nationalen Rechtsprechung derzeit unterschiedlich beantwortet (dafür: Verwaltungsgericht Sigmaringen, Urteil vom 4. Juni 2021 – A 4 K 3124/19 –, juris; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Beschluss vom 2. Juli 2021 – A 19 K 2100/21 –, juris und Urteil vom 12. Juli 2021 – A 19 K 9993/17 –, juris; Roß, NvWZ 2021, 553; dagegen: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. April 2021 – 19 A 810/16.A –, juris; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 19. April 2021 – A 4 K 6798/19 –, juris), das allein rechtfertigt indes angesichts der dargestellten Heterogenität noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung.

Nach Auffassung der Kammer lässt sich aus den beiden genannten Urteilen des EuGH der vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers angestellte Schluss nicht ziehen. Den Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass das Unionsrecht – abweichend vom nationalen deutschen Recht – das Bundesamt bei seiner Entscheidung über den Erlass einer Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 i. V. m. § 59 AufenthG auch zur Berücksichtigung des Wohls des Kindes nach Art. 5 lit a) Rückführungsrichtlinie und der familiären Bindungen nach Art. 5 lit. b) Rückführungsrichtlinie verpflichtet. In seinem erstgenannten Urteil vom 11. März 2021 wiederholt der Gerichtshof vielmehr lediglich seine schon früher getroffene Aussage zu Art. 5 lit a) Rückführungsrichtlinie, dass das Kindeswohl nicht nur dann zu berücksichtigen ist, wenn Adressat der Rückkehrentscheidung der Minderjährige selbst ist, sondern auch dann, wenn Adressat sein Elternteil ist (Rn. 33, 43). Das Urteil enthält keine Aussage des Inhalts, dass die nationale Asylbehörde diese Kindeswohlprüfung bei ihrer Rückkehrentscheidung nicht mehr der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten dürfe. Vielmehr verlange danach Art. 5 Rückführungsrichtlinie i.V.m. Art. 24 der EU-Grundrechtecharta nur, dass die Mitgliedstaaten auch in derartigen Fällen vor einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben. Auch dem zitierten Urteil vom 14. Januar 2021 lässt sich ebenfalls keine solche Aussage entnehmen. Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Fall eines unbegleiteten Minderjährigen ist dem Fall des Antragstellers noch weniger vergleichbar. Insbesondere spielt die zentrale Frage jenes Verfahrens, wie und wann ein Mitgliedstaat zu prüfen hat, ob für den fraglichen unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung steht (Rn. 55) im vorliegenden Fall keine Rolle (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. April 2021 – 19 A 810/16.A –, juris Rn. 100).

Nach Ansicht der zur Entscheidung berufenen Kammer ergibt sich auch nicht aus der Zusammenschau beider Entscheidungen des EuGH, dass die Frage, wie die Berücksichtigung des Kindeswohls zu erfolgen habe, im Sinne der Ansicht des Antragstellers geklärt sei (in diese Richtung: Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 12. Juli 2021 – A 19 K 9993/17 –, juris Rn. 75). Zwar ist es zutreffend, dass der EuGH mit dem zitierten Urteil vom 11. März 2021 entschieden hat, dass Art. 5 lit. a) Rückführungsrichtlinie auch in Konstellationen wie der vorliegenden verlangt, dass das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen ist und mit dem Urteil vom 14. Januar 2021 zu dem Schluss gekommen ist, dass dann, wenn eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde, die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen ergreifen müssen, die zur Durchführung der Abschiebung des Betroffenen erforderlich sind (Rn. 79). Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass der EuGH bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen hat, dass Art. 6 Abs. 4 Rückführungsrichtlinie es den Mitgliedstaaten erlaubt, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen des Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen (Urteil vom 5. Juni 2014 – C-146/14, PPU –, juris Rn. 52). Es ist dem Unionsrecht daher nicht zu entnehmen, dass jede Rückführungsentscheidung zwingend zu vollziehen ist und damit im Umkehrschluss absehbare für einen erheblichen Zeitraum bestehende Hinderungsgründe in der Vollziehung bereits dem Erlass der Rückkehrentscheidung entgegenstehen. Nach Art. 6 Abs. 4 Rückführungsrichtlinie wird in diesem Fall entweder bereits keine Rückkehrentscheidung erlassen oder – wenn bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen ist – ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.

Nach Ansicht der Kammer ist die nationale Regelung in § 60a Abs. 2b AufenthG, wonach u.a. die Abschiebung der Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 besitzt, ausgesetzt werden soll, folglich ausreichend, um dem unionsrechtlichen Erfordernis der "gebührenden Berücksichtigung" Rechnung zu tragen. Die Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt durch diese Regelung "vor Erlass" der Abschiebungsandrohung das Wohl eines Kindes oder auch von familiären Bindungen dadurch "gebührend", dass von vornherein aufgrund der gesetzgeberischen Systematik feststeht, dass eine Abschiebungsandrohung nicht vollstreckt werden wird, solange inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen. Eine Verlagerung der Prüfung nationaler Abschiebungshindernisse auf die Ebene des Erlasses der Rückkehrentscheidung bedarf es daher nicht (ebenso: Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 19. April 2021 – A 4 K 6798/19 –, juris Rn. 37). [...]