VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 26.08.2021 - 6 K 734/21.WI.A - asyl.net: M30074
https://www.asyl.net/rsdb/m30074
Leitsatz:

Unionsrechtskonformität des Konzepts von Zweitanträgen nach § 71a AsylG ist strittig:

"1. Es ist vorliegend schon fraglich, ob nicht § 71a AsylG gegen die [Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU] verstößt, wenn die Beklagte den Asylantrag als "Zweitantrag" behandelt, da dies der erste Antrag in dem zuständigen Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutsch­land ist.

2. Zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen gehört, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet ist, das, was in dem Verfahren eines Mitgliedstaates vorgetragen wurde und die dortige Entscheidungsgrundlage war, bei der Entscheidung über die Frage ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG vorliegen, zu berücksichtigen und zu beachten hat.

3. Ob sich die Sach- oder Rechtslage zugunsten des Klägers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen kann nur festgestellt werden, wenn die Unterlagen aus dem Asylverfahren in dem EU-Mitgliedstaat beigezogen und übersetzt werden."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Zweitantrag, Amtsermittlung, Unionsrecht, Verfahrensrichtlinie, Generalanwalt, Änderung der Sach- und Rechtslage, Zulässigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a, RL 2013/32/EU Art. 2 Bst. q, VwVfG § 51 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Bescheid der Beklagten vom 25.05.2021 ist offensichtlich rechtswidrig.

Es ist vorliegend schon fraglich, ob nicht § 71a AsylG gegen die RICHTLINIE 2013/32/EU DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes verstößt, wenn die Beklagte den vorliegenden Asylantrag als "Zweitantrag" behandelt, da dies der erste Antrag in dem zuständigen Mitgliedsstaat Bundesrepublik Deutschland ist. Insoweit der neue Antrag ein neues Verfahren auslöst. Diesbezüglich wird auf die Überlegung des Schlussantrags des Generalanwalts Hendrik Saugmandsgaardøe vom 18.03.2021 in der Rechtssache C-8/20 (Rn. 34 ff.) hingewiesen.

Hierauf kommt es jedoch nicht an. Denn soweit gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein Asylverfahren nur dann durchzuführen ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG erfüllt sind, bedarf es hierzu der Prüfung. Dies bedeutet, dass die Ausgangsentscheidung (der Ausgangsverwaltungsakt), die dazugehörige Anhörung und ggf. Gerichtsentscheidung die Grundlage bilden, ob sich die Sach- oder Rechtslage zugunsten des Antragstellers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, die eine günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Dazu hat die Beklagte festzustellen und aufzuklären, was der Kläger bei seiner Anhörung in Dänemark angegeben hat und was Grundlage des ablehnenden Bescheides der dänischen Behörden gewesen ist. Eine allgemeine persönliche Befragung des Klägers, was er in dem ersten Verfahren in dem anderen Mitgliedsstaat vorgetragen habe, reicht dazu nicht aus. Bei diesem Vorgehen handelt es sich eher um eine Art "Kaffeesatzlesen", als eine fundierte Verwaltungstätigkeit.

Gemäß § 24 VwVfG ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen. Ein Grundsatz, welcher auch im Asylverfahren zu beachten ist. Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Kläger zur Mitwirkung verpflichtet ist. Dazu gehört, dass das Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge verpflichtet ist das, was in Dänemark vorgetragen wurde und die dortige Entscheidungsgrundlage war, bei der Entscheidung über die Frage ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG vorliegen, zu berücksichtigen und zu beachten hat. Dazu gehört auch, dass die Unterlagen aus dem Asylverfahren in Dänemark beizuziehen und zu übersetzen sind – die Gerichtssprache ist Deutsch, gleiches gilt für die deutsche Bundesverwaltung –. Nur dann kann festgestellt werden, ob sich die Sach- oder Rechtslage zugunsten des Klägers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen.

Jedoch hat sich der zur Entscheidung des Asylbegehrens beim Bundesamt zuständige Einzelentscheider keinerlei Kenntnis vom Inhalt der dänischen Entscheidung verschafft. Entscheidungen und Übersetzungen befinden sich nicht in der sogenannten Bundesamtsakte.

Es ist nicht Aufgabe des Gerichtes, diese unterlassenen Maßnahmen der Behörde nachzuholen.

Soweit in dem Eilverfahren (6 L 735/21.A.WI) von den dänischen Behörden am 21.06.2021 etwas übersandt worden ist, ist dieses Dokument in dänischer Sprache. Das Gericht ist der dänischen Sprache nicht mächtig und muss es auch nicht sein. An keiner Stelle des Bescheides befindet sich auch nur einziges Wort zum Inhalt der dänischen Entscheidungen. Insoweit konnten diese weder zur Kenntnis genommen, geschweige denn gewürdigt werden. Mithin ist eine Prüfung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 VwVfG in dem angegriffenen Bescheid tatsächlich nicht erfolgt, dies mit der Folge, dass der Bescheid an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in keinster Weise den europarechtlichen Grundsatz des fairen Verfahrens beachtet. [...]