VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 09.09.2021 - 14 A 6163/21 - asyl.net: M30062
https://www.asyl.net/rsdb/m30062
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen und gesunden Mann aus dem Libanon:

Die humanitäre und wirtschaftliche Lage im Libanon hat sich erheblich verschlechtert. In der Folge ist für den Kläger ein Abschiebungsverbot festzustellen, da trotz seiner Erwerbsfähigkeit, seines jungen Alters und seinem familiären Netzwerk im Libanon nicht davon ausgegangen werden kann, dass er bei einer Rückkehr dazu in der Lage wäre, seine elementaren Bedürfnisse zu decken. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Libanon, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Wirtschaftskrise, Existenzminimum,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

33 3. Die Klage ist begründet, soweit der Kläger hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Libanon geltend macht. Der angegriffene Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO (hierzu unter a). Auf die Frage, ob in Bezug auf den Kläger auch die Voraussetzungen für die Feststellung eines nationalen  Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, kommt es danach im vorliegenden Verfahren nicht mehr entscheidungserheblich an (hierzu unter b). [...]

36 [...] Nach dem vorstehenden Maßstab sind die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Libanon für den Kläger erfüllt.

37 aa) Die Situation im Libanon ist durch eine der drei schwersten Wirtschaftskrisen der Welt seit Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt (Congressional Research Service: In Focus - Lebanon, 10.8.2021, sgp.fas.org/crs/mideast/IF11617.pdf, S. 2). Die durch einen Kollaps des Banken- und Finanzsystems ausgelöste Wirtschaftskrise, in deren Zuge die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung ihre Ersparnisse verloren hat, hat unter anderem zu einer Hyperinflation geführt. Nach der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 ist die libanesische Regierung zurückgetreten, Versuche einer Regierungsbildung scheiterten immer wieder und derzeit ist immer noch eine Übergangsregierung im Amt, die nur in begrenztem Umfang handlungsfähig ist (vgl. United States Congressional Research, In Focus - Lebanon, fas.org/sgp/crs/mideast/IF11617.pdf, S. 1; Le Monde, Au Liban, la livre atteint un minimum historique et suscite la colère de la rue, 2.3.2021,https://www.lemonde.fr/international/article/2021/03/02/la-situation-est-devenue-insoutenable-la-monnaie-locale-a-un-plus-bas-historique-les-libanais-a-nouveau-dans-larue_6071740_3210.html). [...]

44 bb) Angesichts der aktuell dramatischen Entwicklung aufgrund einer der drei weltweit schlimmsten Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts und der sich dynamisch verändernden Situation, in der die Lebensmittel-, Strom-, Benzin und vor allem die Wasserversorgung nicht mehr verlässlich funktionieren und der politischen Instabilität stellt die humanitäre Lage im Libanon im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung insgesamt eine exzeptionelle Situation dar, die den Kläger aufgrund der individuellen Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschiebung dergestalt treffen wird, dass er seine elementarsten Bedürfnisse nicht wird befriedigen können und seinen psychischen und physischen Gesundheitszustand zu beeinträchtigen droht.

45 Hinsichtlich der Versorgung mit einer Unterkunft ist für den Kläger zwar davon auszugehen, dass er in der Lage sein wird, in der Wohnung seiner Eltern, wo auch seine zwei unverheirateten Schwestern leben, unterzukommen. Es ist aber beachtlich wahrscheinlich, dass er sich trotz des bestehenden sozialen Netzwerkes im Libanon und im Ausland und trotz der bereits vielfältig angelaufenen internationalen und staatlichen Hilfe nicht ausreichend mit Lebensmitteln und Trinkwasser sowie Wasser für die persönliche Hygiene wird versorgen können.

46 Wie zuvor dargestellt, ist die Versorgungslage mit Lebensmitteln im Libanon seit Ende des Jahres 2019 kontinuierlich und dramatisch schlechter geworden. Ein Großteil der Bevölkerung ist von der grassierenden Hyperinflation betroffen, das verfügbare Mindesteinkommen reicht in den meisten Fällen nicht mehr für den Erwerb von Lebensmitteln aus. Durch den enormen Anstieg der Preise besonders für Grundnahrungsmittel und deren aufgrund der vielfachen Stromausfälle und Knappheit an Benzin eingeschränkte Verfügbarkeit ist es der Bevölkerung - und nach den Schilderungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch seiner Familie in Tripoli – nicht verlässlich möglich, ausreichend Lebensmittel zu erhalten. Hinzu kommt, dass der Kläger voraussichtlich nicht in der Lage wäre, sich verlässlich mit Trink- und Nutzwasser für hygienische Zwecke zu versorgen und dass diese Situation beachtlich wahrscheinlich sich noch erheblich verschlechtert. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger im Libanon über ein soziales Netz verfügt, er jung, gesund und ledig ist und internationale und staatliche Hilfe in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen. [...]

51 Es ist zwar davon auszugehen, dass der Kläger Unterstützung durch die im Ausland lebende Familie erhalten wird. Selbst wenn diese über ausreichend finanzielle Mittel und den Willen verfügen würde, den Kläger sowie weitere Angehörige im Libanon finanziell zu unterstützen, könnte der Kläger Überweisungen im Libanon aber nur in Lira und voraussichtlich nicht in vollem Umfang von seinem Konto abheben, da Guthaben weitestgehend auf den Konten eingefroren sind (vgl. Le Monde: Le Liban en état de catastrophe humanitaire, 11.6.2021, https://www.lemonde.fr/international/article/2021/06/11/le-liban-au-seuil-d-une-catastrophe-humanitaire_6083760_3210.html). Zusammen mit den staatlichen Unterstützungsleistungen im Rahmen des GARP/REAP Programms der Bundesregierung können diese Zahlungen eine Überbrückungshilfe darstellen und die finanzielle Grundversorgung des Klägers anfangs sichern. Sie können aber insbesondere angesichts des inflationsbedingt extrem hohen Preisniveaus nicht als alleinige Lebensgrundlage dienen, zumal die beachtliche Gefahr, von der Trink- und Nutzwasserversorgung ausgeschlossen zu sein und somit die diesbezüglichen existenziellen Bedürfnisse nicht sichern zu können, nicht allein von finanziellen Mitteln abhängt. [...]