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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 20.07.2021 - XIII ZB 98/19 - asyl.net: M30042
https://www.asyl.net/rsdb/m30042
Leitsatz:

Verlust des Rügerechts in Haftverfahren:

1. Hat die betroffene Person eine rechtliche Vertretung, so hat das Gericht zur Wahrung des Grundsatz des fairen Verfahrens sicherzustellen, dass die Bevollmächtigten an der Anhörung nach § 420 FamFG teilnehmen können. Ist die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt verhindert, so ist gegebenenfalls unter einstweiliger Anordnung einer kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen.

2. Das Recht auf die Teilnahme der Verfahrensbevollmächtigten an der persönlichen Anhörung ist eine Verfahrensvorschrift, auf deren Befolgung ein Beteiligter wirksam verzichten kann. Entsprechend muss eine Verletzung im Beschwerdeverfahren geltend gemacht werden. Andernfalls liegt ein Verlust des Rügerechts nach § 295 ZPO vor, und die Verfahrensverletzung kann im folgenden Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr geltend gemacht werden.

3. Nach § 68  FamFG i.V.m. § 420 FamFG ist eine persönliche Anhörung im Beschwerdeverfahren grundsätzlich vorgeschrieben. Hiervon kann jedoch abgesehen werden, wenn eine ordnungsgemäße Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine Anhörung nicht zu erwarten sind. Auch wenn die Anhörung durch das Amtsgericht unter Verletzung des Rechts auf Teilnahme der Verfahrensbevollmächtigten stattgefunden hat, so ist eine erneute Anhörung im Beschwerdeverfahren entbehrlich, wenn die Verletzung durch die Beschwerde nicht gerügt worden ist und zusätzliche Erkenntnisse durch die erneute persönliche Anhörung nicht zu erwarten waren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Haftbeschluss, Prozessbevollmächtigte, Rechtsanwalt, Terminsverlegung, Verlegungsantrag, Verlust des Rügerechts, Rügerecht, Anhörung, Beschwerdeverfahren, Rechtsbeschwerde, Bundesgerichtshof,
Normen: FamFG § 420, FamFG § 427, GG Art. 20 Abs. 3, ZPO § 295, FamFG § 68 Abs. 3, FamFG § 72 Abs. 3, ZPO § 556,
Auszüge:

[...]

I. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

1. Das Beschwerdegericht hält die Verlängerung der nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO angeordneten Haft für rechtmäßig. Von einer erneuten Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren hat es abgesehen, da davon zusätzliche Erkenntnisse nicht zu erwarten seien.

2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

a) Im Ergebnis zu Recht hat das Beschwerdegericht die Haftanordnung nicht beanstandet. Die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht war zwar nicht ordnungsgemäß, weil das Amtsgericht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen hat. Jedoch hat der Betroffene diesen Verstoß im Beschwerdeverfahren nicht gerügt und er ist daher mit dieser Rüge im Rechtsbeschwerdeverfahren ausgeschlossen.

aa) Das Amtsgericht hat gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.

(1) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7, und vom 10. November 2020 - XIII ZB 129/19, juris Rn. 8). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach§ 427 FamFG oder entsprechender Fortdauer einer bereits erlassenen einstweiligen Anordnung ein neuer Termin zu bestimmen (BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5; vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 f., und vom 10. November 2020 - XIII ZB 129/19, juris Rn. 8). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7, und vom 10. November 2020 - XIII ZB 129/19, juris Rn. 8).

(2) Dem ist das Amtsgericht nicht gerecht geworden. Der Rechtsanwalt des Betroffenen, der am 2. Mai 2019 mit Telefax zu einem Anhörungstermin am 3. Mai 2019 geladen wurde, hat noch am selben Tag eine Verlegung des Anhörungstermins mit der Begründung beantragt, dass er an diesem Tag einen auswärtigen Termin in Frankfurt wahrzunehmen habe. Wegen der Verhinderung des Prozessbevollmächtigten hätte das Amtsgericht einen neuen Termin bestimmen müssen. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts war eine Verlegung nicht deshalb ausgeschlossen, weil die am 15. April 2019 angeordnete Haft bis zum 3. Mai 2019 befristet war. Das Amtsgericht hätte vielmehr im Wege einer einstweiligen Anordnung eine weitere kurze Haft nach § 427 FamFG bestimmen können und müssen, um dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen die nach Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG gebotene Beteiligung noch in der ersten Instanz zu ermöglichen.

bb) Der Betroffene war jedoch gehalten, den Verfahrensmangel bereits im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zu rügen.

(1) Eine Verfahrensverletzung kann gemäߧ 72 Abs. 3 FamFG i.V.m. § 556 ZPO im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr geltend gemacht werden, wenn der Rechtsbeschwerdeführer sein Rügerecht in der Vorinstanz nach der Vorschrift des § 295 ZPO verloren hat (Bahrenfuss/Joachim, FamFG, 3. Aufl. § 420 Rn. 13; vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2021 - XIII ZB 29/19, juris Rn. 11; vgl. auch Beschluss vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, InfAuslR 2018, 184 Rn. 25). Das wiederum ist der Fall, wenn er es versäumt hat, die Verletzung von Verfahrensvorschriften zu rügen, auf deren Befolgung ein Beteiligter wirksam verzichten kann. Zu diesen Verfahrensvorschriften gehört das Recht eines Beteiligten auf die Teilnahme seines Verfahrensbevollmächtigten in der persönlichen Anhörung nach § 420 FamFG. Der in dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert einem Betroffenen zwar, sich zur Wahrung seiner Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen, und billigt ihm das Recht zu, diesen Bevollmächtigten zu der Anhörung hinzuzuziehen (BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, FGPrax 2014, 228 Rn. 8 und vom 20. Mai 2016 - V ZB 140/15, NVwZ 2016, 1430 Rn. 6; siehe auch BVerfG, StV 1994, 552 f.; NJW 1993, 2301 f. - jeweils zur mündlichen Anhörung des Verurteilten im Strafvollstreckungsverfahren). Eine Verletzung dieses Anspruchs führt auch ohne weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft (BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - XIII ZB 129/19, juris Rn. 13 und vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, AnwBl. 2021, 241 Rn. 14). Die Beteiligung eines Verfahrensbevollmächtigten gehört aber nicht zu den zwingenden Verfahrensvorschriften, die unabhängig davon einzuhalten sind, ob der Betroffene dies wünscht, wie beispielsweise die persönliche Anhörung nach § 420 FamFG oder im Betreuungsrecht die Bestellung eines Verfahrenspflegers (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Oktober 2013 - V ZB 127/12, Asylmagazin 2014,57 Rn. 9 und vom 1. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 26), und auf die deshalb nicht wirksam verzichtet werden kann. Vielmehr kann der Betroffene auf die Teilnahme seines Verfahrensbevollmächtigten verzichten (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2021 - XIII ZB 66/20, juris Rn. 7).

(2) Im Streitfall war der Betroffene deshalb gehalten, den in der unterbliebenen Teilnahme seines Verfahrensbevollmächtigten liegenden Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens bereits im Beschwerdeverfahren zu rügen. Dies wäre schon zu dem Zweck geboten gewesen, dem Amtsgericht Gelegenheit zu geben, die versäumte Teilnahme seines Verfahrensbevollmächtigten im Abhilfeverfahren umgehend nachzuholen. Es war ihm auch zumutbar (vgl. BVerfG, NStZ 1984, 370, 371).

cc) Da das nicht geschehen ist, ist der Betroffene mit seiner Rüge ausgeschlossen.

b) Auch die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat den Betroffenen nicht in seinen Rechten verletzt.

aa) Der Betroffene rügt ohne Erfolg, in der Beschwerdeinstanz nicht erneut angehört worden zu sein. Die persönliche Anhörung ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG im Beschwerdeverfahren grundsätzlich vorgeschrieben (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2018 - V ZB 70/17, juris Rn. 9 mwN). Hiervon darf das Beschwerdegericht nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung in erster Instanz stattgefunden hat und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2018 - V ZB 70/17, juris Rn. 9 mwN). Da der Betroffene den Verstoß des Amtsgerichts gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht gerügt hat, und zusätzliche Erkenntnisse unabhängig hiervon durch die erneute persönliche Anhörung nicht zu erwarten waren, war das Beschwerdegericht nicht gehalten, den Betroffenen erneut anzuhören. [...]