VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 31.08.2021 - 1 B 107/21 - asyl.net: M30014
https://www.asyl.net/rsdb/m30014
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Ausbildungsduldung wegen eingeleiteter aufenthaltsbeendender Maßnahmen:

1. Die Beantragung von Passersatzpapieren ist nicht zwingend als aufenthaltsbeendende Maßnahme im Sinne von § 60c Abs. 2 Nr. 5 AufenthG anzusehen. Vielmehr ist im Einzelfall zu prüfen, ob der entsprechende Antrag in naher Zukunft zur Ausstellung der Passersatzpapiere führt. 

2. Aufgrund des Rücknahmeabkommens zwischen der EU und Armenien ist jedoch davon auszugehen, dass eine Abschiebung in hinreichend engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einem Antrag auf Ausstellung von Passersatzpapieren möglich ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Armenien, Rückübernahmeabkommen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Passbeschaffung, Rückführungsabkommen, Rücknahmeabkommen,
Normen: AufenthG § 60c Abs. 2 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

20 Die Antragstellerin hat zwar aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen zur Vorbereitung der Aufenthaltsbeendigung einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ihr steht jedoch kein Anordnungsanspruch, d.h. ein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegebener Rechtsanspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung zu, der zu einem vorläufigen Schutz vor Abschiebemaßnahmen führen könnte. [...]

29 Der Antragsgegner hat mit dem Schreiben vom 15. März 2021 das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge im Wege der Amtshilfe um Durchführung der Abschiebung der Antragstellerin und ihrer Familie sowie um Beschaffung der hierfür erforderlichen Passersatzpapiere für den Ehemann und den Sohn der Antragstellerin gebeten. Er hat damit die bereits nach Rechtskraft der asylrechtlichen Entscheidung bestehende Absicht des Vollzuges der Ausreiseverpflichtung in Gang gesetzt, nachdem die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner erklärt hatte, nicht zur freiwilligen Ausreise bereit zu sein.

30 Zwar erscheine es nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 28. Februar 2020, – Az.10 C 20.32 –, juris, Rn. 17) zweifelhaft, ob sich die bisherige Rechtsprechung zur alten Rechtslage, dass eine konkrete Maßnahme zur Aufenthaltsbeendigung bereits bei der Stellung eines Antrags auf Beschaffung eines Passersatzpapiers vorliegt (BayVGH, Beschluss vom 20. November 2018 – 10 CE 18.2159 –, juris Rn. 12), nach der gesetzlichen Neuregelung uneingeschränkt aufrechterhalten lasse, nachdem die in § 60c Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a bis c AufenthG aufgeführten Maßnahmen bereits in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufenthaltsbeendigung stünden und § 60c Abs. 2 Nr. 5 Buchst. d AufenthG vergleichbar konkrete Maßnahmen fordere, die in einem hinreichend sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Aufenthaltsbeendigung stehen. Es werde daher wohl in jedem Einzelfall zu prüfen sein, ob der entsprechende Antrag in naher Zukunft zur Ausstellung eines Passersatzpapiers führt (vgl. Röder in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1. Januar 2020, AufenthG, § 60c Rn. 51).

31 Auch unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ergibt sich vorliegend jedoch ein hinreichend zeitlicher und sachlicher Zusammenhang der Maßnahme des Antragsgegners vom 15. März 2021 (Amtshilfeersuchen) mit der Aufenthaltsbeendigung und deren weiterhin erforderlichen Überwachung mangels freiwilliger Ausreisebereitschaft. Auf Grundlage des bestehenden Rücknahmeabkommens zwischen der Europäischen Union und der Republik Armenien (Amtsblatt der Europäischen Union, L 289/13) ist eine zügige (zwangsweise) Rückführung von nicht mehr innerhalb der EU aufenthaltsberechtigten armenischen Staatsangehörigen sichergestellt. Gemäß Art. 3 Ziff. 4 des Abkommens stellt nach der Zustimmung Armeniens zum Rückübernahmeantrag die zuständige diplomatische oder konsularische Vertretung Armeniens, ungeachtet des Wunsches der rückzuübernehmenden Person, unverzüglich, unentgeltlich und spätestens innerhalb von drei Arbeitstagen das für die Rückführung der rückzuübernehmenden Person erforderliche Reisedokument mit einer Gültigkeitsdauer von 120 Tagen aus. Hat Armenien das Reisedokument nicht innerhalb von drei Arbeitstagen ausgestellt, so wird davon ausgegangen, dass es das Standardreisedokument der Europäischen Union für die Rückführung anerkennt.

32 An der armenischen Staatsangehörigkeit bestanden keine Zweifel, so dass durch die Vorlage der (abgelaufenen) Reisepässe am 12. März 2021 und die Einleitung des Amtshilfeersuchens am 15. März 2021 – und damit vor Beantragung einer Ausbildungsduldung – konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstanden. Diesbezüglich hat das Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge im Gespräch mit dem Antragsgegner am 26. August 2021 (vgl. Vermerk hierüber auf Bl. 292 des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bd. 5) dargelegt, dass nunmehr ein Ausreisetermin in den Blick genommen werde und dann die Passersatzpapiere beantragt bzw. abgerufen würden, um während der 120-tägigen Gültigkeit dieser ggf. mehr als einen Ausreisetermin zu ermöglichen. [...]