Keine Rechtsgrundlage für Anspruch auf Evakuierung gefährdeter Personen aus Afghanistan; kein Anspruch auf humanitäre Aufnahme:
1. Der auf die Evakuierung besonders gefährdeter Personen aus Afghanistan gerichtete Verpflichtungsantrag im Rahmen eines Eilrechtsverfahrens ist zulässig, da durch die Machtübernahme der Taliban diesen besonders schwere und unzumutbare Nachteile drohen.
2. Es besteht jedoch kein materiell-rechtlicher Anspruch auf die Evakuierung oder das Ergreifen weiterer schützender Maßnahmen. Hierfür fehlt es an einer Rechtsgrundlage:
a) Das Konsulargesetz gilt nur für deutsche Staatsangehörige und inländische juristische Personen; afghanische Staatsangehörige sind hiervon nicht umfasst.
b) Das Aufenthaltsgesetz sieht lediglich die Erteilung von Visa, nicht jedoch den Transport von Inhaber*innen bereits erteilter oder noch zu erteilender Visa vor.
c) Auch aus dem Grundgesetz oder Völkerrecht ergibt sich keine derartige Verpflichtung des deutschen Staates.
3. Ein Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 22 AufenthG in Verbindung mit der Selbstbindung der Verwaltung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG ergibt sich nur für ehemalige afghanische Ortskräfte und ihre Ehepartner*innen und Kinder. Ein Anspruch weiterer Personengruppen besteht nicht, da die Entscheidung über die Aufnahme Ausdruck autonomer Ausübung staatlicher Souveränität ist. Die Bundesrepublik hat den Personenkreis in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auf afghanische Staatsangehörige beschränkt, die in den vergangenen Jahren in Afghanistan für Bundesressorts, in deren Auftrag oder in deren Interesse gearbeitet haben und gerade deshalb einer besonderen Gefährdung unterliegen.
(Leitsätze der Redaktion)
Anmerkung:
Die 10. Kammer des VG Berlin hatte am 25. August 2021 im Eilverfahren das Auswärtige Amt verpflichtet, einem afghanischen Staatsangehörigen, der bis 2017 für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) tätig war, ein Visum zu erteilen. Auch seiner Frau und drei Kindern (zwei davon volljährig) wurde ein Visumsanspruch zugesprochen (Beschluss vom 25.8.2021, VG 10 L 285/21 V, siehe asyl.net Meldung vom 26.8.2021: VG Berlin: Afghanischer Ortskraft und Familie müssen Visa erteilt werden). Diese Entscheidung des VG Berlin wurde aufgehoben durch Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 3. November 2021 (6 S 28/21 - asyl.net: M30506).
[...]
5 1. Der Antrag ist zwar zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Danach kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis u.a. dann erlassen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dem Wesen und Zweck dieses Verfahrens entsprechend kann das Gericht mit einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich aber nur vorläufige Regelungen treffen und dem jeweiligen Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was Klageziel des Hauptsacheverfahrens ist. Durch die Verpflichtung, die Antragstellerin auszufliegen wird ebenso wie bei der auch nur vorläufigen Erteilung von Visa die Hauptsache vorweggenommen, weil dadurch die legale Einreise nach Deutschland ermöglicht wird (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Eine solche Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung kommt – mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Garantie effektiven Rechtsschutzes (vgl. Art. 19 Abs. 4 GG) – nur in Ausnahmefällen, und zwar nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Rechtsschutzsuchenden schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Urteil vom 25. Oktober 1988 - 2 BvR 745.88 -, juris Rn. 17; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. Oktober 2017 – OVG 3 S 84.17 –, juris Rn. 2).
6 Eine solche Ausnahmesituation liegt hier wegen der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und der damit verbundenen erheblichen Gefahr für Leib und Leben insbesondere auch für (ehemalige) Beschäftigte der afghanischen Regierung und deren Familien vor. Hinzu kommt, dass nach aktuellen Mitteilungen in der Presse die Einstellung der derzeit noch durchgeführten Evakuierungsflüge vom Flughafen Kabul unmittelbar bevorsteht. Die Antragsgegnerin hat insoweit vorgetragen, der letzte Evakuierungsflug habe Kabul bereits verlassen. Auch nach einem aktuellen Bericht der Tagesschau vom heutigen Tage, Stand: 10:56 Uhr, ist heute bereits die letzte Maschine der Bundeswehr, die Schutzbedürftige aus Kabul ausfliegen soll, gestartet. Allenfalls einzelne Härtefälle sollen eventuell noch an Bord genommen werden (vgl. www.tagesschau.de newsticker/liveblog-afghanistan-donnerstag-101.html#Wohl-letzte-Maschine-mit-Schutzbeduerftigen-auf-dem-Weg-nach-Taschkent). Bei einem weiteren Verbleib der Antragsteller in Afghanistan drohen ihnen schwere und unzumutbare und anders nicht abwendbare Nachteile, weil die Taliban angekündigt haben, eine weitere Evakuierung von afghanischen Staatsangehörigen über den 31. August 2021 hinaus nicht mehr dulden zu wollen (vgl. www.tagesschau.de/ausland/asien/kabulabzug-taliban-101.html). Überdies haben die Antragsteller vorgetragen, Talibanmilizen hätten auf der Suche nach ihnen bereits ihre Wohnungen gestürmt, um sie zu töten. Derzeit versteckten sie sich in einer anderen Wohnung in Afghanistan.
7 2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
8 a) Ein Anspruch auf Ausfliegen oder der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf Ergreifen der notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Leben und körperlicher Integrität der Antragsteller besteht nicht. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus dem Konsulargesetz (KonsG). Dessen Schutzbereich umfasst nur deutsche Staatsangehörige sowie inländische juristische Personen (vgl. § 1 KonsG). Auch das Aufenthaltsrecht gibt (gegebenenfalls) lediglich einen Anspruch auf die Erteilung eines Visums, nicht jedoch auf den Transport von Inhabern bereits erteilter oder nach § 14 Abs. 2 AufenthG noch zu erteilender Visa. Auch ein sich aus dem Grundgesetz oder völkerrechtlichen Verpflichtungen der Antragsgegnerin ergebender Anspruch ist nicht ersichtlich. Die Antragsteller haben bereits nicht glaubhaft gemacht, weshalb sie eine entsprechende Verpflichtung des deutschen Staates sehen.
9 Im Übrigen kann die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Evakuierung der Antragsteller aus Afghanistan wegen der volatilen Sicherheitslage in Kabul auch aus tatsächlichen Gründen nicht ausgesprochen werden. Ob es den Antragstellern tatsächlich möglich wäre, zum Flughafen Kabul zu gelangen und einen Platz in einem Evakuierungsflug zu bekommen oder sie auf sonstiger Weise aus Afghanistan ausreisen könnten, kann angesichts der derzeitigen Sicherheitslage und des (jedenfalls unmittelbar bevorstehenden) Endes der Evakuierungsflüge nicht garantiert werden (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 25. August 2021 – VG 10 L 285/21 V -, EA S. 6).
10 b) Die Antragsteller haben auch keinen Anspruch auf Erteilung von Visa. Ungeachtet dessen, dass sie bei der Beklagten bisher keinen Antrag auf Erteilung von Visa gestellt haben, liegen auch die sonstigen Voraussetzungen für die Visumserteilung nicht vor. Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus § 22 AufenthG. Zwar ist die Antragsgegnerin nach § 22 AufenthG in Verbindung mit der Selbstbindung der Verwaltung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet, ehemaligen afghanischen Ortskräften und ihren Ehepartnern und Kindern im Rahmen ihrer Verwaltungspraxis Visa auf der Grundlage von § 22 AufenthG zu erteilen (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 25. August 2021 – VG 10 L 285/21 V -, EA S. 5 f.). Bei den Antragstellern handelt es sich indes nicht um afghanische Ortskräfte bzw. deren Familienangehörige. Die Bundesregierung fasst unter Ortskräfte die Personen, die auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages für ein Ressort, eine Institution der bilateralen deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder eine politische Stiftung tätig waren oder sind (vgl. Antwort des Staatssekretärs Dr. Helmut Teichmann vom 30. Juli 2021 auf die schriftliche Anfrage von Margarete Bause, MdB, BT-Drucks. 19/31896, S. 9). Die Antragsteller zu 1), 7) und 15), die nach eigenen Angaben Personenschützer des afghanischen Präsidenten waren, standen in keiner vertraglichen Beziehung zu der Antragsgegnerin, sondern allein zum afghanischen Staat.
11 Ein Anspruch weiterer Personengruppen auf Erteilung eines Visums besteht gemäß § 22 AufenthG nicht. Die Entscheidung über die Aufnahme ist Ausdruck autonomer Ausübung staatlicher Souveränität. Die Vorschrift gewährt Ausländern deshalb keinen Anspruch auf die Erklärung der Aufnahme (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 77). Die Antragsgegnerin hat den Personenkreis in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auf afghanische Staatsbürger, die in den vergangenen Jahren in Afghanistan für Bundesressorts, in deren Auftrag oder in deren Interesse gearbeitet haben und gerade deshalb in der derzeitigen Situation einer akuten Gefährdung unterliegen, beschränkt. Zu diesem Personenkreis gehören die Antragsteller nicht. [...]