VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 27.07.2021 - A 5 K 2093/19 - asyl.net: M29987
https://www.asyl.net/rsdb/m29987
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine alleinstehende (verwitwete) ältere kurdische Frau aus dem Irak:

Alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, welche nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurück­greifen können, bilden im Irak eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Nr. 4 AsylG. Bei einer Rückkehr in den Irak sind sie an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Frauen, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3b Nr. 4, AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

b. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bilden alleinstehende Frauen im Irak, die nicht auf den Schutz eines (männlich dominierten) Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen ausgesetzt sind und für die keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht. Die Berichterstatterin folgt insoweit der weit überwiegenden Rechtsprechung (vgl. VG München, Urteil vom 17.03.2020 - M 19 K 16.32656 -, juris Rn. 26 ff.; VG Hannover, Urteil vom 07.10.2019 - 6 A 5999/17-, juris Rn. 23 ff.; VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018- 6 A 5751/16 -, juris Rn. 38 ff.; Urteil vom 26.02.2018 - 6 A 6292/16 -, juris Rn. 34 ff.; Urteil vom 19.12.2018 - 6 A 4443/18 -, juris Rn. 31 ff., jeweils m.w.N. auf Erkenntnismittel; ähnlich für alleinstehende, an westlichen Werten orientierte Frauen: VG Aachen, Urteil vom 03.05.2019 - 4 K 3092/17.A -, juris Rn. 32 ff.; Urteil vom 06.03.2019 - 4 K 2386/17.A -; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.06.2017- 8a K 1971/16.A -, juris LS 1 f., Rn. 32 ff.; VG Stuttgart, Urteil vom 18.01.2011 – A 6 K 615/10 -, juris LS, Rn. 30 ff.; für eine Gruppenverfolgung der bestimmten sozialen Gruppe alleinstehender Frauen: VG Münster, Urteil vom 02.10.2018 - 6a K 5132/16.A -. juris Rn. 36 ff.; Urteil vom 05.02.2019 - 6a K 3033/18.A -, juris Rn. 39 ff.; a.A., allerdings ausschließlich auf eine fehlende Gruppenverfolgung abstellend: VG Berlin, Urteil vom 15.07.2019 - 5 K 393.18 A -, juris Rn. 47). Derart in ihrer Identität durch ihren Familienstand bzw. ihre familiäre Situation geprägte Frauen teilen sowohl einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund als auch bedeutsame Merkmale (lit. a)). Sie werden überdies wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der Irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (lit. b)), nach verbreiteter Einschätzung sogar als gesellschaftlicher Fremdkörper. Die Frage, ob Personen eine bestimmte soziale Gruppe bilden, lässt sich auch inhaltlich trennen von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Angehörigen dieser Gruppe im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland Verfolgung droht (vgl. zur Verfolgungsgefahr alleinstehender afghanischer Frauen ohne Unterstützung eines Familienverbandes: Nds. OVG, Beschluss vom 21.01.2014 - 9 LA 60/13, juris LS, Rn. 5).

Der Befund, dass alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, welche nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurückgreifen können, eine bestimmte soziale Gruppe bilden, deren Angehörigen nach der jeweiligen Lage des Einzelfalls geschlechtsspezifische Verfolgung drohen kann, entspricht darüber hinaus weiterhin der geltenden Erkenntnismittellage zum Irak. Nach Würdigung der vorliegenden Erkenntnismittel stellt sich die Lage für Frauen in der Herkunftsregion der Klägerin, aber auch insgesamt im Irak, in einer Gesamtschau wie folgt dar: Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und Ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschritten in der Öffentlichkeit unterordnen (VG Münster, Urteil vom 05.02.2019, a.a.O., Rn. 41 ff.). Zu den zahlreichen ungeschriebenen, zunehmend restriktiven Verhaltensregeln für Frauen zählen beispielsweise das landesweit geltende Verschleierungsgebot oder für Frauen insbesondere im Süd- und Zentralirak bestehende Verbote, ohne männliche Begleitung das Haus zu verlassen oder Auto zu fahren; die Einhaltung solcher in Anknüpfung an das weibliche Geschlecht auferlegter faktischer Einschränkungen des Selbstbestimmungsrechts wird dabei nicht selten gerade von (männlichen) Familienangehörigen überwacht (VG Münster, a.a.O.). Ungeschriebene Forderungen nach einer weiteren Einschränkung der Rechte und insbesondere der Bewegungsfreiheit der Frauen finden offenbar unter dem Eindruck einer tatsächlich deutlich gestiegenen Anzahl sexueller Übergriffe auf Frauen im Irak und entsprechenden Warnungen in Moscheen immer breitere Unterstützung. Der UNHCR hat in seiner Stellungnahme zur Situation von Frauen im Irak (Aktualisierte Anmerkungen von UNHCR zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak, November 2005) auf eine Vielzahl von Fällen hingewiesen, in denen Frauen, die sich beispielsweise dem Verschleierungsverbot widersetzt haben. Opfer von Säureattentaten geworden seien (VG.Münster, a.a.O.). Dem UNHCR seien darüber hinaus mindestens 75 Falle bekannt geworden, in denen irakische Frauen wegen des Verstoßes gegen islamische Verhaltensregelungen getötet worden seien (VG Münster, a.a.O.). Mehrfach sei in der Presse davon berichtet worden, dass Frauen, die sich unverschleiert oder in westlicher Kleidung oder ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit gezeigt haben, auf offener Straße gekidnappt und kahl geschoren worden seien in einigen Fällen verbunden mit der Warnung, bei erneuter Zuwiderhandlung gegen islamische Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften ermordet zu werden (VG Münster, a.a.O.). Insofern ist davon auszugehen, dass Frauen, die sich den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften nicht anpassten, unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko unterlägen, Opfer schwerwiegender Eingriffe in ihre physische Integrität zu werden (VG Münster, a.a.O.). Gegen solche Übergriffe und Einschüchterungen ist für Frauen derzeit im Irak weder effektiver staatlicher noch subsidiärer Schutz durch Angehörige verfügbar (VG Münster, a.a.O.). Die einzige Möglichkeit, den Bedrohungen oder der Anwendung von Gewalt wegen der Nichtbeachtung fundamentalistisch geprägter, diskriminierender Verhaltensregeln zu entgehen, besteht offenbar in der völligen Unterwerfung der betroffenen Frau unter die restriktiven Verhaltensstandards. Einen Unterschied zwischen Frauen mit familiärer Bindung und solchen ohne familiäre Kontakte gebe es dabei nur insofern, als für Frauen, die im Familienverbund lebten und von ihren Familienmitgliedern versorgt werden könnten, auch bei Anpassung an die konservativen islamischen Fundamentalisten geforderte Lebensweise das wirtschaftliche Überleben gesichert sei, während alleinstehende Frauen praktisch kaum eine Chance hätten, ohne Übertretung der geforderten Verhaltensstandards wirtschaftlich zu überleben (VG Münster, a.a.O.). Die dargestellte prekäre Lage gilt im Besonderen für allein lebende Frauen; diese sind im gesamten Irak unüblich - (da dies als Fehlverhalten gilt) und beschränken sich allenfalls auf Witwen, die im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen ihr männliches Familienoberhaupt verloren haben (VG München, a.a.O., Rn. 30). Diese werden jedoch üblicherweise in den verbleibenden (männlich dominierten) Familienverband (re-)integriert und auf diese Weise regelrecht beaufsichtigt; die permanente Kontrolle verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist insoweit zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen (VG München, a.a.O.). Soweit sie keine männliche Unterstützung haben, sind von den beschriebenen Missständen jedoch regelmäßig Witwen, geschiedene Frauen oder Frauen, deren Männer vermisst werden, am stärksten betroffen; diese sind in einer verletzlichen Position in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage und laufen Gefahr, Opfer von Belästigung, Misshandlung, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden (VG München, a.a.O.; VG Münster, Urteil vom 02.10.2018, a.a.O., Rn. 40). Sie haben Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, insbesondere, wenn ihnen der Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Beziehungen zum Finden einer Anstellung fehlen. Die wirtschaftliche Diskriminierung erstrecke sich nicht nur auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch auf Kredit und Lohngleichheit. Sie werden von breiten gesellschaftlichen Schichten sozial ausgegrenzt. Ohne den Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Beziehungen lässt sich kaum eine Arbeitsstelle finden, zumal es bis heute in breiten Schichten der irakischen Gesellschaft nicht üblich ist, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses nachgehen. Teilweise ist es den Frauen zumindest faktisch verwehrt, selbst Eigentum zu mieten. Insgesamt hat sich die Lage solcher Frauen aufgrund von Unsicherheit, hoher Kriminalität, ungenügendem Schutz durch staatliche Autoritäten, schlechter Infrastruktur sowie der zunehmenden Bedeutung strikter islamischer Werte, die oftmals von Milizen, Familien und Clans durchgesetzt werden, in den letzten Jahren generell verschlechtert. Speziell alleinstehende Frauen ohne Schutz der Familie, des Stammes und Clans oder Unterstützung anderer Personen und Einrichtungen sind nicht in der Lage, Zugang zu grundlegenden Ressourcen ohne diese Unterstützung zu bekommen. Von ihren Familien verstoßene Frauen ohne soziales Netzwerk zur Unterstützung sind erheblich schlechter gestellt als alleinstehende Frauen mit Unterstützung. Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, jedoch bestimmt Art. 41 der Verfassung, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Insoweit gewährt schon die Verfassungslage rigiden religiösen Vorstellung zu Lasten von Frauen Entfaltungsspielraum. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. So kann ohne männliche Zustimmung eine Frau etwa keinen Reisepass oder Dokumente beantragen, die für die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen, Nahrungsmittelhilfe etc. erforderlich sind. Ehrenmorde werden auch im Zentral- und Südirak von Schiiten und Sunniten arabischer Volkszugehörigkeit praktiziert. Frauen und Mädchen, die durch unmoralisches Verhalten Schande über die Familie gebracht haben sollen, werden von männlichen Familienmitgliedern zur Wiederherstellung der Familienehre getötet (vgl. zu allem die Nachweise in den genannten Entscheidungen, insbesondere aber: EASO, Irak - gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 185 ff.; Accord, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung, 25.02.2019). [...]