LG Duisburg

Merkliste
Zitieren als:
LG Duisburg, Beschluss vom 24.06.2021 - 31 Qs 170 Js 464/20 - 31/21 - asyl.net: M29977
https://www.asyl.net/rsdb/m29977
Leitsatz:

Recht auf Pflichtverteidigung:

1. Eine Person, die nicht alphabetisiert ist, die deutsche Sprache nicht beherrscht und unter rechtlicher Betreuung steht, weil sie psychisch erkrankt ist, ist nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen.

2. Jeder dieser Gründe reicht für sich genommen bereits für eine Beiordnung aus.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pflichtverteidigung, Analphabeten, psychische Erkrankung, Betreuung, Deutschkenntnisse,
Normen: StPO § 140 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Beschwerdeführerin war Rechtsanwalt Sürig als notwendiger Verteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen, da sie zur Selbstverteidigung nicht fähig ist. Die Beschuldigte ist durch mehrere in ihrer Person liegende Gründe nicht in der Lage, alle Möglichkeiten einer sachgerechten Verteidigung zu nutzen. Jeder dieser Gründe kann bereits für sich die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO rechtfertigen. Jedenfalls aber die Gesamtschau der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Umstände begründen ihr Unvermögen zur Selbstverteidigung.

So ist ein Unvermögen zur Selbstverteidigung anzunehmen, wenn der Beschuldigte nur eingeschränkt lesen oder schreiben kann oder an Legasthenie leidet, erst recht wenn der Beschuldigte Analphabet ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 140 Rn. 44-47 m.w.N.). Die Beschwerdeführerin ist libanesische Staatsangehörige. Sie ist der deutschen Sprache nicht mächtig und zudem auch in ihrer Muttersprache Analphabetin. Die Ladung eines Dolmetschers in der Hauptverhandlung vermag diesen Mangel nicht auszugleichen.

Auch dann, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht und zum Aufgabenkreis des Betreuers die Vertretung vor Behörden zählt, ist von einem Unvermögen zur Selbstverteidigung auszugehen (BeckOK StPO/Krawczyk, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 140 Rn. 44-47 m.w.N.). Die Beschwerdeführerin steht unter laufender Betreuung. Zu dem Aufgabenkreis des Betreuers der Beschwerdeführerin gehört nach dem Beschluss des Amtsgerichts … vom … 2020, Az. ..., die Vertretung vor Behörden.

Stehen die §§ 20, 21 StGB im Raum, ist zudem stets von einer notwendigen Verteidigung auszugehen (BeckOK StPO/Krawczyk, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 140 Rn. 44-47 m.w.N.). Die Beschwerdeführerin hat ausweislich des ärztlichen Attests vom … 2021 eine schwere depressive Episode mit psychotischen Phänomenen, die ausweislich des Attests vom … 2019 auch zum damaligen Zeitpunkt bereits bestand, hier kodiert als F33.3G (Rezidivierende schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen). Zu den psychotischen Symptomen zählen Wahnideen, Halluzinationen oder ein depressiver Stupor (vgl. Nationale Versorgungsleitlinien, Unipolare Depression, herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 2. Auflage 2015, 2.2.1.1 Symptomatik depressiver Episoden). Depressionen können als schwere andere seelische Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB jedenfalls dann von Relevanz sein, wenn sich der Tatvorwurf - wie hier - auf ein echtes Unterlassungsdelikt bezieht (BeckOK AuslR/Hohoff, 29. Ed. 1.4.2021, AufenthG § 95 Rn. 4) oder neben den rein depressiven Symptomen Wahnvorstellungen auftreten (BeckOK StGB/Eschelbach, 49. Ed. 1.2.2021, StGB § 20).

Auf die Frage, ob das vorliegende Verfahren eine schwierige Sach- und Rechtslage im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO betrifft, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an. [...]