VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 19.04.2021 - 11 B 19.30575 - asyl.net: M29964
https://www.asyl.net/rsdb/m29964
Leitsatz:

Kein Schutz für homosexuellen Mann aus Sankt Petersburg:

Homosexuellen Personen droht in der Russischen Föderation mit Ausnahme des Nordkaukasus keine an ihre sexuelle Orientierung anknüpfende flüchtlingsrelevante Gruppenverfolgung. Dies gilt jedenfalls für Personen, die nicht öffentlich oder in den "sozialen Medien" als LSBTI-Aktivist*innen auftreten oder durch ihr äußeres Erscheinungsbild besonders auffallen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, homosexuell, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, Tschetschenien, Nordkaukasus, LSBTI, sexuelle Orientierung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

22 2. Nach diesen Maßstäben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Es ist nicht davon auszugehen, dass ihm wegen seiner Homosexualität in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens eine Verfolgung durch den Staat oder durch nichtstaatliche Akteure droht. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass der Kläger vor seiner Ausreise gravierende individuelle Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat. Seine Schilderung hinsichtlich der Vorkommnisse weist erhebliche Widersprüche, Ungereimtheiten und Lücken auf und erscheint deshalb insgesamt nicht glaubhaft (a). Abgesehen davon würden die geschilderten Vorfälle selbst bei Wahrunterstellung weder einzeln noch in der Summe gravierende und schwerwiegende Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte darstellen (b). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sind auch die Voraussetzungen einer an die Homosexualität anknüpfende Gruppenverfolgung nicht erfüllt (c). Schließlich ergibt sich auch aus dem rechtskräftigen Gerichtsbescheid vom 22. Oktober 2018, mit dem das Verwaltungsgericht Regensburg die Beklagte verpflichtet hat, dem Lebensgefährten des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, kein Anspruch des Klägers, ebenfalls als Flüchtling anerkannt zu werden (d). [...]

24 aa) Der Senat hat keine Zweifel daran, dass der Kläger homosexuell ist. Des Weiteren ist nach der Auskunftslage davon auszugehen, dass er damit in seinem Heimatland einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG angehört, deren Mitglieder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach den hierzu vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Kriterien (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 - NVwZ 2014, 132 = juris Rn. 44-49) eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der dortigen Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Die hierzu vom Senat eingeholten Auskünfte bestätigen übereinstimmend, dass erhebliche Teile der Bevölkerung der Russischen Föderation Vorbehalte gegenüber Homosexuellen haben.

25 So hat der Auskunft des Auswärtigen Amt vom 27. Januar 2020 und dem Lagebericht vom 2. Februar 2021 (Stand: Oktober 2020) zufolge eine Umfrage in 50 Regionen im April 2019 ergeben, dass lediglich 3% der Bevölkerung eine positive Einstellung zu Homosexuellen hätten, während 39% neutral und 56% negativ gegenüber Homosexuellen eingestellt seien. 43% der Bevölkerung lehnten eine Gleichstellung Homosexueller mit anderen Bürgern ab. Einflussreiche Organisationen wie die Russisch-Orthodoxe Kirche träten gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften ein. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet von verbreiteter Homophobie in der russischen Bevölkerung, von LGBT-feindlicher Rhetorik in den Medien und von der Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch die zunehmend einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche. Amnesty International bestätigt ebenfalls, dass homophobe Ansichten in der russischen Gesellschaft weit verbreitet seien, und weist auf die Volksabstimmung vom 1. Juli 2020 zur Verfassungsänderung hin, mit der festgelegt worden sei, dass der Staat die Ehe als "Verbindung aus Mann und Frau" zu schützen habe.

26 Auch wenn Homosexualität als solche in der Russischen Föderation nicht strafbar ist, tragen weitere legislative und administrative Maßnahmen, insbesondere das "Gesetz zum Verbot von Propaganda  nichttraditioneller sexueller Beziehungen unter Minderjährigen" vom 30. Juni 2013, dazu bei, dass bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung starke Vorbehalte gegenüber Homosexuellen anzutreffen sind. Dieses Gesetz wird Umfragen zufolge von 88% der Bevölkerung befürwortet. 42% der Bevölkerung sprechen sich sogar für die Strafbarkeit von Homosexualität als solcher aus. Damit betrachtet die Gesellschaft in der Russischen Föderation Homosexuelle aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als andersartig mit der Folge, dass sie als bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind.

27 bb) Der Senat konnte allerdings nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger wie von ihm geschildert vor seiner Ausreise gravierende individuelle Verfolgungsmaßnahmen erlitten hätte. Vielmehr bestehen aufgrund widersprüchlichen, lückenhaften und unstimmigen Vorbringens erhebliche Zweifel an dessen Darstellung der Vorkommnisse. Dies gilt sowohl für die geschilderten Übergriffe von Nachbarn als auch für die Probleme mit den Brüdern seiner früheren Ehefrau und schließlich auch für die angeblich fluchtauslösende Aufforderung eines Polizisten, die Wohnung und das Land zu verlassen, und damit für sämtliche Übergriffe, die der Kläger geltend gemacht hat. [...]

40 c) Ein Anspruch des Klägers auf Flüchtlingsschutz lässt sich auch nicht damit begründen, dass ihm in der Russischen Föderation aufgrund seiner Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure drohen würde. [...]

42 bb) Von einer solchen landesweiten Verfolgungsdichte für Homosexuelle in der Russischen Föderation ist nach den eingeholten Auskünften und der sonstigen Erkenntnislage trotz der durchaus vorkommenden Übergriffe durch nichtstaatliche Akteure und des häufig unzureichenden Schutzes durch die Polizei nicht auszugehen.

43 (1) Eine Sondersituation, von der der zuletzt in St. Petersburg wohnhafte Kläger jedoch nicht betroffen ist, besteht allerdings im Nordkaukasus und insbesondere in Tschetschenien. Dort kommt es nach übereinstimmenden Berichten seit 2017 zu gezielten Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Behörden. Berichtet wird über willkürliche Verhaftungen, Entführungen und Folter sowie außergerichtliche Tötungen von Personen, die homosexuell sind oder als solche angesehen werden, durch tschetschenische Sicherheitskräfte. Allein im Jahr 2017 sollen mehr als 100 Männer inhaftiert worden sein und erniedrigende Behandlung einschließlich Folter erlitten haben; mehrere Personen sollen ums Leben gekommen sein. Die Verfolgungen setzten sich in mehreren Wellen jedenfalls bis Januar 2019 fort (Auswärtiges Amt, Bericht vom 2.2.2021 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation [Stand Oktober 2020], S. 12 f. und Auskunft vom 27.1.2020; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 21 Russische Föderation - LGBTI in Tschetschenien [Stand 11/2019]; Auskunft der SFH vom 17.7.2020; Auskunft von AI vom 11.9.2020; Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur internationalen Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Transgendern und Intersexuellen, BT-Drs. 19/9077, S. 13; österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation, Stand 4.9.2020, S. 74 ff.). [...]

49 (3) Trotz dieser ohne Zweifel schwierigen Situation für Homosexuelle ist jedoch mit Ausnahme Tschetscheniens in der Russischen Föderation weder ein staatliches Verfolgungsprogramm festzustellen noch sind die Übergriffe so zahlreich, dass jede LGBTI-Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden. Dies gilt jedenfalls für Homosexuelle, die - wie der zuletzt in einer vergleichsweise sicheren Stadt wie St. Petersburg lebende Kläger - nicht zum Kreis der öffentlich oder in den sozialen Medien auftretenden LGBTI-Aktivisten zählen und die auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild nicht als LGBTI-Person auffallen. Damit sind die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung nicht erfüllt.

50 Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte erreichen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (BVerwG, U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08 - NVwZ 2009, 1237 Rn. 15). [...]

52 Angaben zur Zahl der LGBTI-Personen in der Russischen Föderation finden sich selten und sind sicherlich mit erheblicher Ungewissheit behaftet. Das britische Innenministerium geht von mehr als 10 Millionen LGBTI-Personen in der Russischen Föderation aus (United Kingdom - Home Office: Country Policy and Information Note, Russia: Sexual orientation and gender identity or expression [November 2020], S. 7, 80). Diese Zahl erscheint relativ hoch gegriffen. Andere, allerdings nicht länderbezogene Annahmen gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Frauen und zwei bis vier Prozent der Männer auf ausschließlich homosexuelles Verhalten festgelegt sind (vgl. VGH BW, U.v. 7.3.2013 - A 9 S 1872/12 - juris Rn. 117; OVG RhPf, U.v. 8.7.2020 - 13 A 10174/20 - juris Rn. 57). Das ergäbe bei ca. 61 Millionen Einwohnerinnen im relevanten Alter eine Größenordnung zwischen 0,61 und 1,22 Millionen homosexueller Frauen und bei ca. 52,5 Millionen Einwohnern im relevanten Alter eine Größenordnung zwischen 1,05 und 2,1 Millionen homosexueller Männer. Legt man die jeweils niedrigste Zahl zugrunde, ergäben sich bei einem Prozent homosexueller Frauen und zwei Prozent homosexueller Männer insgesamt 1,66 Millionen LGBTI-Personen
in der Russischen Föderation.

53 Ebenfalls schwer zu beziffern ist die Zahl der Übergriffe auf LGBTI-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung durch nichtstaatliche Akteure, vor denen weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen Schutz zu erlangen ist. Die hierzu vom Senat eingeholten Auskünfte weisen ebenso wie weitere Erkenntnisquellen auf eine hohe Dunkelziffer hin, weil die Betroffenen von Anzeigen bei der Polizei absehen oder solchen Anzeigen nicht nachgegangen wird. In seiner Auskunft vom 27. Januar 2020 berichtet das Auswärtige Amt auf der Grundlage von Medienberichten über mindestens 363 tätliche Angriffe auf Homosexuelle oder Einrichtungen wie Schwulen-Clubs in der Zeit von 2011 bis 2016 und von 366 Übergriffen in der Zeit von 2016 bis 2017. Aufgrund der Tatsache, dass zahlreiche Opfer aus Angst vor der Polizei keine Anzeige erstatten würden, sei tatsächlich von einer höheren Zahl von Übergriffen auszugehen. Genaue Daten bezüglich der Schwere der Schädigungen und der Art der jeweiligen Verletzungshandlungen lägen ebenso wie Zahlen zur Verfolgungs- und Aufklärungsquote im Bereich homophob motivierter Übergriffe nicht vor. [...]

58 Legt man für die Russische Föderation eine Zahl von 1,66 Millionen homosexueller Einwohner im Alter zwischen 15 und 79 Jahren zugrunde und setzt man dazu die dargelegten Zahlen der bekannten Übergriffe auf LGBTI-Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung in Relation, lässt sich nicht feststellen, dass die Übergriffe so zahlreich wären, dass jede oder nahezu jede LGBTI-Person begründet befürchten müsste, in Anknüpfung an ihre sexuelle Orientierung selbst Opfer von Übergriffen zu werden. Dies gilt auch dann, wenn man von einer hohen Dunkelziffer ausgeht, deren Größenordnung allerdings nur geschätzt werden kann. Landesweit sind den Berichten zufolge von 2011 bis 2016 mindestens 363 tätliche Angriffe auf Homosexuelle und von 2016 bis 2017 366 Übergriffe sowie einzelne Tötungsdelikte zu beklagen. Bei einer Annahme von jährlich 200 registrierten Gewalttaten und einer eher hoch gegriffenen Dunkelziffer, wonach nur einer von Hundert der tatsächlich vorkommenden körperlichen Übergriffe öffentlich bekannt wird, ergäben sich in der gesamten Russischen Föderation 20.000 Übergriffe pro Jahr.

59 Gemessen an der eher niedrig angesetzten Zahl von mindestens 1,66 Millionen LGBTI-Personen läge die Gefahr, Opfer eines solchen Übergriffs zu werden, bezogen auf alle LGBTI-Personen dann bei ca. 1,2 Prozent im Jahr. Dieser Befund ist zwar mit erheblichen Ungewissheiten belastet, lässt sich aber aufgrund der vagen Zahlenangaben nicht genauer beziffern. Auch die Angaben der Betroffenen in den Umfragen sind nicht verifizierbar und erlauben daher keine belastbare Berechnung. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Zahl der LGBTI-Personen möglicherweise deutlich höher liegt (vgl. die Annahmen des britischen Innenministeriums), was zu einem geringeren Gefährdungsgrad führen würde. Außerdem sind die Zahlen auf die gesamte Russische Föderation bezogen und berücksichtigen regionale Unterschiede wie etwa die besondere Lage in Tschetschenien nicht. In St. Petersburg, wo der Kläger zuletzt gelebt hat, ist die Situation nach übereinstimmenden Quellenangaben verglichen mit anderen Landesteilen vergleichsweise günstig. Es kommt hinzu, dass die Gefahrenlage maßgeblich davon abhängt, ob der Betreffende als LGBTI-Aktivist öffentlich bekannt ist oder durch sein äußeres Erscheinungsbild oder die Offenlegung seiner sexuellen Orientierung in der Öffentlichkeit auffällt. All dies ist beim Kläger nicht der Fall. Auch die Gefahr, bei Fake-Dates Opfer von Gewalt oder Erpressung zu werden, besteht beim Kläger, der in einer festen Partnerschaft lebt, nicht.

60 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Verfolgungsdichte bei Übergriffen auf LGBTI-Personen trotz des unzureichenden Schutzes durch die staatlichen Behörden und die Polizei in der Russischen Föderation nicht die Größenordnung erreicht, die erforderlich wäre, damit für Homosexuelle landesweit die begründete Befürchtung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure anzunehmen wäre. [...]