BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 08.08.2021 - 2 BvR 2038/19 - asyl.net: M29961
https://www.asyl.net/rsdb/m29961
Leitsatz:

Nichtannahmebeschluss in Abschiebehaftverfahren:

1. Der Subsidiaritätsgrundsatz gebietet, dass die Beschwerdeführer vor der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen. Dies umfasst auch die Erhebung einer Anhörungsrüge nach § 44 FamFG. Es ist hierbei unerheblich, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 GG geltend gemacht wird, solange es möglich erscheint, dass die geltend gemachte Grundrechtsverletzung durch die Erhebung der Anhörungsrüge hätte beseitigt werden können.

2. Verfassungsbeschwerden müssen nach § 23 BVerfGG substantiiert darlegen, dass eine unmittelbare und gegenwärtige Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Im vorliegenden Verfahren wurde gerügt, dass eine einstweilige Haftanordnung erlassen wurde, obwohl eine Haftanordnung in der Hauptsache möglich gewesen wäre. Die Rüge zeigt jedoch nicht auf, dass das Vorgehen dem Fachrecht nicht entspricht oder eine Grundrechtsverletzung darstellt.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Ergeht eine Haftanordnung im regulären Verfahren, so ist eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) nach § 70 Abs. 4 FamFG möglich. Eine einstweilige Anordnung kann hingegen nicht mit der Rechtsbeschwerde angegriffen werden. Nach Angaben des Einsenders besteht deshalb die Gefahr, dass durch den Erlass einer einstweiligen Haftanordnung anstelle einer Anordnung im Hauptsacheverfahren der BGH aus den Verfahren "herausgehalten" und der Rechtsweg der Betroffenen unzulässig beschränkt wird. Auf diesen - durch den Beschwerdeführer vorgetragenen - Aspekt geht das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht näher ein.  

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Beschleunigungsgebot, Nichtannahmebeschluss, Überstellungshaft, Subsidiaritätsgrundsatz, Rechtsbeschwerde, einstweilige Anordnung,
Normen: GG Art. 103, GG Art. 104 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, FamFG § 70 Abs. 4, BVerfGG § 23, FamFG § 44,
Auszüge:

[...]

Mit seiner am 18. November 2019, einem Montag, vorab per Fax einschließlich aller Anlagen eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Fachgerichte hätten den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und dadurch gegen die Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG verstoßen. Dabei handele es sich um eine der bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordere. Der Verstoß ergebe sich daraus, dass die Fachgerichte nicht aufgeklärt hätten, wie es zu der Reihenfolge der Wiederaufnahmeersuchen (erst Niederlande, dann Spanien) gekommen sei. Schließlich habe es bereits im Haftantrag geheißen, der Beschwerdeführer solle nach Spanien überstellt werden. Auch habe aufgeklärt werden müssen, wann genau die Anfragen gestellt und abgelehnt worden seien. Nur so könne beurteilt werden, ob der Beschleunigungsgrundsatz eingehalten worden sei.

Diese Fragen seien bereits im Rahmen der Beschwerde gerügt worden. Gleichwohl finde sich in der Entscheidung des Landgerichts dazu "kein Wort".

2. Außerdem habe hier nicht im Wege einstweiliger Anordnung entschieden werden dürfen. Die einstweilige Haftanordnung sei nach der gesetzlichen Konzeption der Ausnahmefall. Sie sei dann möglich, wenn es noch an weiteren, nicht sofort verfügbaren Erkenntnissen fehle. Könne hingegen auch eine Haftanordnung in der Hauptsache ergehen, dann müsse diese Entscheidung ergehen. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung müsse in dieser Situation abgelehnt werden. Dies habe auch die Bundespolizei so gesehen, da sie andernfalls nicht am 7. Juni 2019 eine Haftanordnung in der Hauptsache beantragt hätte.

Die von den Fachgerichten gewählte Verfahrensweise verletze den Beschwerdeführer "in seinen Rechten". Dies ergebe sich daraus, dass ihm der Weg zum Bundesgerichtshof versperrt sei. Nach § 70 Abs. 4 FamFG sei die Rechtsbeschwerde bei einer einstweiligen Anordnung unstatthaft. [...]

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, da die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.

1. Soweit der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht in Form der Amtsermittlungspflicht nach § 26 FamFG rügt, genügt seine Verfassungsbeschwerde dem Grundsatz der Subsidiarität nicht.

a) Der Subsidiaritätsgrundsatz gebietet - über die bloße formelle Erschöpfung des Rechtswegs hinaus -, dass ein Beschwerdeführer das ihm Mögliche tut, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird. Er muss insbesondere alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 84, 203 <208>; 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; 129, 78 <92>; stRspr.).

b) Diesen Anforderungen ist der Beschwerdeführer nicht gerecht geworden, weil er gegen den Beschluss des Landgerichts keine Anhörungsrüge - nach § 44 FamFG - erhoben hat. Die Anhörungsrüge gehört zwar nicht bereits zum Rechtsweg, denn der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG.

Eine Anhörungsrüge hätte der Beschwerdeführer aber unter Subsidiaritätsgesichtspunkten erheben müssen. Der Beschwerdeführer hatte mit der Beschwerde ausdrücklich eingewandt, dass aufgrund des älteren EURODAC-Treffers für Spanien ein Wiederaufnahmeersuchen zunächst dorthin habe gerichtet werden müssen. Gleichwohl ist das Landgericht auf die Reihenfolge der Wiederaufnahmeersuchen und auf die etwaige Konsequenz der gewählten Vorgehensweise für das Beschleunigungsgebot nicht eingegangen. Der Beschwerdeführer war daher gehalten, das Landgericht im Wege der Anhörungsrüge dazu anzuhalten, sich zur Reihenfolge der Wiederaufnahmeersuchen zu verhalten. Dadurch hätte möglicherweise der behauptete Verstoß gegen die Aufklärungspflicht beseitigt werden können. Das Landgericht hätte dann auch Ausführungen dazu machen müssen, ob es aufgrund der vorliegenden Informationen zur Reihenfolge der Wiederaufnahmeersuchen die Rechtmäßigkeit der gewählten Vorgehensweise beurteilen konnte.

Der Beschwerdeführer erwähnt in seiner Verfassungsbeschwerde selbst, dass sich das Landgericht mit "keinem Wort" zu seinen Ausführungen in der Beschwerde verhalten habe. Warum er keine Anhörungsrüge gegen die Entscheidung erhoben hat, erläutert er jedoch nicht.

2. Soweit der Beschwerdeführer rügt, es habe nicht im Wege einstweiliger Anordnung entschieden werden dürfen, hat er die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht hinreichend substantiiert dargelegt:

a) Ein Beschwerdeführer muss nach § 23 Abs. 1 Satz 2, 1. Halbsatz, § 92 BVerfGG hinreichend substantiiert darlegen, dass eine unmittelbare und gegenwärtige Verletzung in einem verfassungsbeschwerdefähigen Recht möglich erscheint (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 123, 267 <329>), was eine Auseinandersetzung mit den angegriffenen Entscheidungen und deren konkreter Begründung notwendig macht (vgl. BVerfGE 101, 331 <345>; 130, 1 <21>). Will der Beschwerdeführer von den Feststellungen oder von der Würdigung der Tatsachen durch die Fachgerichte abweichen, muss er seinen abweichenden Sachvortrag mit einem verfassungsrechtlichen Angriff gegen die fachgerichtliche Tatsachenfeststellung verbinden (vgl. BVerfGE 83, 119 <124 f.>). [...]

b) Diesen Anforderungen genügt die Verfassungsbeschwerde nicht.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers ist - wohl - dahingehend zu verstehen, die fachgerichtlichen Entscheidungen seien rechtswidrig, weil für eine vorläufige Haftanordnung die Voraussetzung gelte, dass eine Haftanordnung in der Hauptsache nicht möglich sei. Insoweit zeigt er einen Verfassungsverstoß jedoch nicht auf.

aa) Zunächst verkennt der Beschwerdeführer, dass die Bundespolizei nur einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Haftanordnung gestellt hatte. Vor diesem Hintergrund war es dem Amtsgericht verwehrt, eine Entscheidung in der Hauptsache zu treffen.

bb) Außerdem zeigt der Beschwerdeführer nicht auf, dass die Rechtsauffassung des Landgerichts dem Fachrecht nicht entspricht. Das Landgericht hat angenommen, eine Eilentscheidung könne auch dann ergehen, wenn eine Hauptsacheentscheidung möglich sei.

Zwar vertreten Teile des Schrifttums die Ansicht, dass eine einstweilige Haftanordnung nur dann ergehen dürfe, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache nicht möglich sei (vgl. Grotkopp, Abschiebungshaft, 2020, Rn. 656; Stahmann, in: Oberhäuser, Migrationsrecht in der Beratungspraxis, 2019, § 11 Rn. 344; ders., in: Marschner/Lesting/Stahmann, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 6. Aufl. 2019, § 427 FamFG Rn. 5). Im Übrigen heißt es jedoch lediglich, dass für den Erlass einer einstweiligen Anordnung eine "doppelte Gefahrenprognose" erforderlich sei. Danach müssten erstens dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung gegeben seien. Zweitens müsse ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden noch vor einer Entscheidung in der Hauptsache vorliegen (vgl. Drews, in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 427 Rn. 2; Göbel, in: Keidel, FamFG, 20. Aufl. 2020, § 427 Rn. 2; Heidebach, in: Haußleiter, FamFG, 2. Aufl. 2017, § 427 Rn. 4; Heinze, in: Bork/Jacoby/Schwab, FamFG, 3. Aufl. 2018, § 427 Rn. 1; Wendtland, in: Münchener Kommentar zum FamFG, 3. Aufl. 2019, § 427 Rn. 3 f.). Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2014 - V ZB 114/13 -, juris, Rn. 13).

Daraus, dass ein dringendes Bedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegt, wenn eine Haftanordnung in der Hauptsache noch nicht entscheidungsreif ist, folgt jedoch nicht zwingend der Umkehrschluss, dass eine einstweilige Anordnung gar nicht mehr ergehen darf, wenn die Hauptsache entscheidungsreif ist. Eine Begründung seiner dahingehenden Rechtsauffassung lässt der Beschwerdeführer ebenso vermissen wie Ausführungen dazu, warum sie verfassungsrechtlich geboten sei. Es ist auch nicht ohne weiteres erkennbar, dass die gegenteilige Rechtsauffassung des Landgerichts unvertretbar und willkürlich wäre. [...]