OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.08.2021 - 9 LA 143/20 - asyl.net: M29955
https://www.asyl.net/rsdb/m29955
Leitsatz:

Keine Zulassung der Berufung wegen nachträglich geltend gemachter Machtübernahme der Taliban in Afghanistan

1. Bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) sind entscheidungserhebliche Änderungen der Sach- oder Rechtslage nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nur zu berücksichtigen, sofern diese Änderungen innerhalb der Antragsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG hinreichend dargelegt werden. Nach Ablauf der Antragsfrist kann ein innerhalb der Antragsfrist hinreichend dargelegter Zulassungsgrund noch ergänzt werden; neue Zulassungsgründe können aber nicht berücksichtigt werden.

2. Tritt eine wesentliche Änderung der Sachlage nach Ablauf der Antrags- und Begründungsfrist ein, die im Verfahren auf Zulassung der Berufung aus rechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden kann, muss der Kläger auf die Stellung eines Folgeantrags nach § 71 AsylG verwiesen werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Taliban, Änderung der Sachlage, Berufungszulassungsantrag, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 4 S. 1, AsylG § 71,
Auszüge:

[...]

19 3. Die Berufung kann trotz der spätestens mit der Machtübernahme durch die Taliban am 15. August 2021 veränderten tatsächlichen Verhältnisse in Afghanistan nicht zugelassen werden. Der ergänzte Vortrag des Klägers unter I. in dem Schriftsatz vom 13. August 2021 sowie die unter II. dieses Schriftsatzes neu aufgeworfenen, nach Auffassung des Klägers grundsätzlich bedeutsamen Fragen nebst der darauf bezogenen Begründung, verhelfen dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg.

20 Zwar sind bei der Entscheidung über den Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich auch entscheidungserhebliche Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu berücksichtigen, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind; dies gilt jedoch nur für vom Kläger innerhalb der Antragsfrist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG hinreichend dargelegte Änderungen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.1.2019 – 13a ZB 17.31111 – juris Rn. 8 m.w.N.; siehe auch bereits Senatsbeschluss vom 16.9.2003 – 9 LA 218/03 – juris). Hieraus folgt, dass der Vortrag neuer, selbstständiger Zulassungsgründe nach Ablauf der Antragsfrist nicht berücksichtigt werden kann, hingegen ein innerhalb der Antragsfrist hinreichend dargelegter Zulassungsgrund noch ergänzt werden kann (vgl. auch GK-AsylG, Stand: August 2021, § 78 Rn. 548 f.). Eine für grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage muss bereits im Zulassungsantrag in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt werden. Nach Fristablauf kann eine unzureichende Begründung nicht nachgeholt, sondern nur eine zureichende Begründung vertieft werden (vgl. GK-AsylG, a.a.O., § 78 Rn. 547, 548). Anderenfalls könnten (ergänzende) Ausführungen nach Ablauf der Antragsfrist einen Darlegungsmangel heilen und hierdurch die strenge Fristenregelung in § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG unterlaufen werden.

21 Dies zugrunde gelegt, sind die im Hinblick auf die bereits geltend gemachte Grundsatzfrage aufgrund der aktuellen Entwicklung ergänzten Ausführungen des Klägers unter I. des Schriftsatzes vom 13. August 2021 zum Vormarsch der Taliban, zur Destabilisierung der Sicherheitslage und zur Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan durch die Beklagte schon deswegen nicht zu berücksichtigen, weil der Kläger – wie bereits ausgeführt – in seinem fristgerecht eingereichten Zulassungsantrag vom 24. Juli 2020 eine grundsätzliche Bedeutung der von ihm aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargelegt hat. Außerdem betrifft der ergänzte Vortrag des Klägers zur veränderten Sicherheitslage (bis zum 13. August 2021) nicht die von ihm aufgeworfene Frage zu den Folgen der Corona-Pandemie für die Erwirtschaftung des notwendigen Existenzminimums.

22 Die von dem Kläger in seinem Schriftsatz vom 13. August 2021 unter II. ausdrücklich zur Ergänzung der bereits aufgeworfenen Grundsatzfrage neu formulierten Fragen sind – unabhängig davon, ob der Kläger insoweit eine grundsätzliche Bedeutung darlegt bzw. eine solche vor dem Hintergrund der sich seit dem 15. August 2021 völlig veränderten Lage in Afghanistan (noch) gegeben wäre – nicht zu berücksichtigen, denn diese Fragen hat der Klägers ersichtlich erst nach Ablauf der Antragsfrist gestellt. Es handelt es sich bei den Ausführungen des Klägers unter II. seines Schriftsatzes vom 13. August 2021 auch nicht um eine (zulässige) Ergänzung seines fristgerecht erfolgten Zulassungsantrages zu der ursprünglich aufgeworfenen Grundsatzfrage, denn sie beziehen sich ausdrücklich nur auf die in diesem Abschnitt ergänzten, neuen aufgeworfenen Fragen. Selbst wenn man das Vorbringen auch als Ergänzung des bisherigen Vortrages im Zulassungsantrag verstünde, wären sie ebenfalls deswegen unbeachtlich, weil der Kläger in seinem Zulassungsantrag eine grundsätzliche Bedeutung der von ihm dort aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dargelegt hat.

23 Kann danach eine wesentliche Änderung der Sachlage aus rechtlichen Gründen nach Ablauf der Antragsfrist aus § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG im Verfahren auf Zulassung der Berufung nicht berücksichtigt werden, muss der Kläger auf die Stellung eines Folgeantrags nach § 71 AsylG verwiesen werden (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.1.2019, a.a.O., Rn. 8). Insofern indizieren die nach Ablauf der Antragsfrist neu aufgeworfenen Fragen entgegen der Auffassung des Klägers auch bei einem unterstellten Klärungsbedarf nicht die Zulassung der Berufung. [...]