OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.08.2021 - 1 LA 43/21 - asyl.net: M29952
https://www.asyl.net/rsdb/m29952
Leitsatz:

Zur Auslegung des Begriffs "Erstentscheidung in der Sache" im Sinne von Art. 10 Dublin III-Verordnung.:

Eine Erstentscheidung im Sinne von Art. 10 Abs. 3 der Dublin III-VO liegt nur dann vor, wenn die Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz bestands- bzw. rechtskräftig ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienzusammenführung, Ablehnungsbescheid, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Erstentscheidung,
Normen: VO 604/2013/EU Art. 10
Auszüge:

[...]

7 Nach Artikel 10 Dublin III-Verordnung ist, wenn ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun. Ausgangspunkt einer Auslegung dieser Vorschrift nach den eingangs genannten Kriterien ist dabei zunächst ihr Regelungskontext im Gesamtgefüge der Dublin III-Verordnung. Diese Verordnung legt nach ihrem Artikel 1 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen. Eines dieser streng hierarchisch gestaffelten Zuständigkeitskriterien, die sich an der Feststellung der Verantwortung des Mitgliedstaats zu dem (internationalen) Schutz Suchenden orientieren (vgl. Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, Kapitel III. Dublin III-VO, Rn. 1), ist es, Schutzanträge von Familienangehörigen gemeinsam bzw. in der Zuständigkeit ein und desselben Mitgliedstaats zu behandeln. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg stellt in seinem bereits wiederholt angeführten Beschluss vom 3. September 2019 (OVG 6 N 58.19) deutlich heraus, dass dies nicht nur in dem vorliegend in Rede stehenden Artikel 10 zum Ausdruck kommt, sondern dass sich dieser Leitgedanke durch eine Reihe weiterer Vorschriften des III. Kapitels zieht. So befasst sich Artikel 8 der Verordnung – i.V.m. Artikel 7 Abs. 3 –, der den Umgang mit minderjährigen Antragstellern regelt, in wesentlichen Teilen mit der Ermittlung etwaiger Familienangehöriger und deren Zusammenführung mit dem Minderjährigen und knüpft insofern an das im Rahmen der "Garantien für Minderjährige" in Artikel 6 als vorrangige Erwägung herausgestellte Wohl des Kindes an, dem durch auszulotende Möglichkeiten der Familienzusammenführung gebührend Rechnung zu tragen ist (Artikel 6 Abs. 1, Abs. 3 Buchst. a) Dublin III-Verordnung). Artikel 11 der Verordnung sieht vor, dass bei Antragstellung mehrerer Familienangehöriger in großer zeitlicher Nähe die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können und enthält Maßgaben, die verhindern sollen, dass die Zuständigkeitsbestimmung eine Trennung der Familienangehörigen zur Folge haben könnte. Den Schutzgedanken einer gemeinsamen Durchführung der Antragsverfahren mehrerer Familienangehöriger sieht die Verordnung sogar dann vor, wenn bereits ein Teil der Familienangehörigen aus deren Anwendungsbereich entlassen ist. Insoweit nämlich bestimmt Artikel 9, dass in dem Fall, dass ein Antragsteller einen Familienangehörigen hat, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun (OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 03.09.2019 - OVG 6 N 58.19 -, juris Rn. 12).

8 Die vorgenannten Vorschriften, mithin auch Artikel 10 Dublin III-Verordnung, dienen der Umsetzung der der Dublin III-Verordnung vorangestellten Erwägungsgründe und sind dementsprechend in deren Licht auszulegen. Das gilt namentlich zunächst für den Erwägungsgrund 14, wonach im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der die Verordnung anwendenden Mitgliedstaaten sein sollte. Diesem Ziel wird eine Auslegung der fraglichen Norm des Artikels 10 Dublin III-Verordnung nur dann gerecht, wenn eine gemeinsame Zuständigkeit für alle Familienangehörigen während des gesamten behördlichen und gerichtlichen Asylverfahrens angenommen wird. Denn anderenfalls droht den Familienangehörigen die Trennung bis zum (möglicherweise divergierenden) Abschluss eines oder gar beider Asylverfahren in unterschiedlichen Mitgliedstaaten. Ebenso verhält es sich in Bezug auf den Erwägungsgrund 15. Soweit Artikel 10 der Dublin III-Verordnung im Besonderen seinen Gedanken aufgreift, der darauf verweist, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat sichergestellt werden kann, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden, kann auch diesbezüglich zum einen der Aspekt der "Familieneinheit" bei der Normauslegung im Lichte der Artikel 8 EMRK bzw. Artikel 7 GRC nur in dem vom Verwaltungsgericht angenommenen Sinn verstanden werden, dass die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats des Familienangehörigen lediglich dann endet, wenn dessen Verfahren bereits bestands- bzw. rechtskräftig abgeschlossen ist, dieser also keinen potenziellen Anspruch mehr auf internationalen Schutz hat. Die Regelung des Artikels 10 Dublin III-Verordnung will zum anderen aber gerade auch den Vorteil nutzen, der sich für die Mitgliedstaaten daraus ergibt, dass mehrere Familienangehörige zur gleichen Zeit im Asylverfahren stehen, damit wechselweise als Auskunftspersonen herangezogen werden können und die gemeinsame Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz eine genauere und kohärente Prüfung ermöglicht. Das Ziel der besonders informierten Entscheidungsfindung durch Einbeziehung sämtlicher Familienangehöriger wird indes nicht bereits dann obsolet, wenn die Behörde – hier das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – eine Entscheidung getroffen hat; die gemeinsame Antragsbearbeitung ist vielmehr ebenso für ein noch nicht abgeschlossenes Gerichtsverfahren von Vorteil und bietet auch insoweit die Möglichkeit einer genaueren und kohärenten Prüfung durch das Gericht. Für dieses Verständnis von Artikel 10 Dublin III-Verordnung spricht nicht zuletzt auch die Legaldefinition des Artikels 2 Buchst. d) Dublin III-Verordnung, wonach unter der "Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz" die Gesamtheit der Prüfvorgänge, die Entscheidungen oder Urteile der zuständigen Behörden in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz zu verstehen sind.

9 Dem vermag die Beklagte nicht mit Erfolg mit dem Argument entgegenzutreten, auch ihr (abweichendes) Normverständnis dahin, dass maßgeblicher Zeitpunkt einer Erstentscheidung im Sinne von Artikel 10 Dublin III-Verordnung derjenige der behördlichen Entscheidung sei, stehe mit beiden Erwägungsgründen 14 und 15 im Einklang. Soweit sie diesbezüglich im Zulassungsantrag (Seite 4 des Schriftsatzes vom 29. März 2021) darauf verweist, Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) kodifiziere kein schrankenloses Menschenrecht und demgemäß sehe auch die Dublin III-Verordnung kein uneingeschränktes Recht auf Familienzusammenführung vor, namentlich Artikel 2 Buchst. g) mit seinem einschränkenden Regelungsinhalt "sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat", oder Artikel 16, der von "rechtmäßigem Aufenthalt" spreche, sowie Artikel 7 Abs. 3, der ebenfalls mit der Formulierung "sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme stattgegeben hat", eine Einschränkung enthalte, machten dies deutlich, legt sie keine nach Sinn und Zweck des Artikels 10 Dublin III-Verordnung gebotene Lesart ihrem Normverständnis entsprechend dar. Insoweit ist vielmehr der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 03.09.2019 - OVG 6 N 58.19 -, juris Rn. 18) zu diesem auch im dortigen Verfahren vorgebrachten Einwand der Beklagten zu folgen, dass durch die Möglichkeit zur Einschränkung des Rechts aus Artikel 8 EMRK durch die Mitgliedstaaten für sich genommen für die streitgegenständliche Auslegungsfrage nichts gewonnen ist. Das gilt auch für den Hinweis auf Artikel 2 Buchst. g) Dublin III-Verordnung, der den Begriff "Familienangehörige" im Sinne der Verordnung definiert und davon abhängig macht, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden habe, zumal diese Voraussetzung für die Anwendung des Artikels 10 Dublin III-Verordnung ohnehin erfüllt sein muss (vgl. Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, Art. 10 Dublin III-VO, Rn. 1). Ebenso wenig ist der Hinweis auf Artikel 16 Dublin III-Verordnung ergiebig. Die Vorschrift regelt die Zuständigkeit zur Durchführung von Schutzanträgen sog. abhängiger Personen. Die Zuständigkeit richtet sich für den von dieser Norm erfassten Personenkreis danach, ob das Familienmitglied, von dem die Person abhängig ist, sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält. Dieser Mitgliedstaat ist danach der zuständige. Die Vorschrift schränkt das Ziel, Familien zusammenzuführen, daher nicht ein, sondern konkretisiert im Gegenteil Kriterien, nach denen dieses Ziel verfolgt werden soll (vgl. Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, Art. 16 Dublin III-VO, Rn. 2). [...]