Inlandsbezogene familiäre Bindungen und Kindeswohlbelange sind schon bei Erlass der Abschiebungsandrohung durch das BAMF zu berücksichtigen:
"1. Das in Art. 5 lit. a der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) aufgeführte Wohl des Kindes ist vor Erlass einer Rückkehrentscheidung i. S. d. Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie zu prüfen, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt (Anschluss an EuGH, Urteil vom 11.03.2021 – C-112/20 – <M. A.> -).
2. Schutzwürdige Interessen an der Vermeidung der Trennung eines Kindes von seinen Familienangehörigen sind als nach Art. 5 lit. a der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigende Belange des Kindeswohls vor Erlass einer Rückkehrentscheidung in Form der Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu prüfen. Diese Prüfung kann unionsrechtlich nicht der nach Erlass der Rückkehrentscheidung für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde überlassen werden (entgegen BVerwG, Beschluss vom 10.10.2012 – 10 B 39/12 –, Rn. 4)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
22 Diese Voraussetzungen liegen hier vor, weil nach der bisherigen nationalen Rechtslage das vom Antragsteller geltend gemachte Kindeswohl für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis unerheblich war (dazu (1)). Nach der nach dem Erlass des Beschlusses vom 15.09.2020 ergangenen EuGH-Rechtsprechung ist dies jedoch unionsrechtswidrig (dazu (2)).
23 (1) Die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Rückkehrentscheidung i. S. v. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie, im Folgenden: RFRL) dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.08.2018 - 1 C 21.17 -, BVerwGE 162, 382, Rn. 18; BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 19.19 -, BVerwGE 167, 383, Rn. 23).
24 Dabei geht das Bundesverwaltungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung (BVerwG, Beschluss vom 10.10.2012 - 10 B 39.12 -, juris Rn. 4), der die Obergerichte folgen (vgl. bspw. OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn. 317; BayVGH, Urteil vom 21.11.2018 - 13a B 18.30632 -, juris Rn. 22), davon aus, dass ausschließlich von der Ausländerbehörde – und damit nicht im Rahmen der Rückkehrentscheidung vom Bundesamt – alle inlandsbezogenen und sonstigen tatsächlichen Vollstreckungshindernisse wie z. B. schutzwürdige Interessen an der Vermeidung einer Trennung von Familienangehörigen zu prüfen sind. Dies legt insbesondere auch § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG in seinem Wortlaut (nahezu zwingend) nahe, wenn dort das Nichtbestehen von Duldungsgründen nicht als Voraussetzung für den Erlass einer Abschiebungsandrohung aufgeführt wird.
25 (2) Diese nationale Rechtslage lässt sich jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht vollständig mit der jüngsten EuGH-Rechtsprechung vereinbaren.
26 Bei der Umsetzung der RFRL berücksichtigen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 RFRL in gebührender Weise: a) das Wohl des Kindes, b) die familiären Bindungen, c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein. Nach Art. 6 Abs. 1 RFRL erlassend die Mitgliedstaaten unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.
27 Wie die Berücksichtigung des Kindeswohls in Art. 5 lit. a RFRL bei der Umsetzung der RFRL zu erfolgen hat, ist mittlerweile jedenfalls teilweise vom EuGH geklärt worden. Der EuGH hat mit Urteil vom 11.03.2021 in der Rechtssache C-112/20 - <M. A.> - entschieden, dass Art. 5 lit. a RFRL in Verbindung mit Art. 24 GRCh dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt. Mit Urteil vom 14.01.2021 in der Rechtssache C-441/19 hat der EuGH im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen entschieden, dass Art. 5 lit. a RFRL vorschreibt, das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 - <TQ>, NVwZ 2021, 550, 551, Rn. 51). Ist eine Rückkehrentscheidung erlassen worden, müssen die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen ergreifen, die zur Durchführung der Abschiebung des Betroffenen erforderlich sind (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 -, Rn. 79). Daher darf ein Mitgliedstaat auf der Grundlage der RFRL gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung erlassen, ohne ihn, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht, anschließend abzuschieben (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 -, Rn. 81).
28 Nach Auffassung der Kammer lässt sich diese EuGH-Rechtsprechung nicht mit der dargestellten nationalen Rechtslage vereinbaren, wonach auch im Falle von Kindern schutzwürdige Interessen an der Vermeidung einer Trennung von Familienangehörigen nicht vor Erlass der Rückkehrentscheidung geprüft werden, sondern lediglich anschließend vor einer etwaigen Abschiebung von der Ausländerbehörde.
29 In der Literatur wird aus dem Urteil vom 14.01.2021 gefolgert, dass über § 34 Abs. 1 AsylG hinaus und abweichend von § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht nur § 58 Abs. 1a AufenthG als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen ist, sondern auch andere mitunter längere Zeit andauernde Duldungsgründe der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG entgegenstehen können (Anm. Roß, NVwZ, 2021, 550, 554; ähnlich: Anm. Pfersich, ZAR 2021, 125, 127 f.). Das OVG NRW ist dagegen der Auffassung, die genannten EuGH-Entscheidungen enthielten keine Aussage des Inhalts, dass die Asylbehörde die Kindeswohlprüfung bei ihrer Rückkehrentscheidung nicht mehr der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten dürfe (OVG NRW, Urteil vom 24.04.2021 - 19 A 810/16.A -, juris Rn. 100). In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe wird die Auffassung vertreten, die Bundesrepublik Deutschland berücksichtige das Wohl eines Kindes oder auch von familiären Bindungen nach Art. 5 lit. a, lit. b RFRL unter anderem dadurch gebührend, dass von vornherein aufgrund der gesetzgeberischen Systematik feststehe, dass eine Abschiebungsandrohung nicht vollstreckt werden wird, solange inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bestehen (VG Karlsruhe, Urteil vom 19.04.2021 - A 4 K 6798/19 -).
30 Letztgenannte Argumente vermögen aus Sicht der Kammer nicht zu überzeugen. Der Verweis auf eine gesetzliche Systematik, die nach Erlass der Rückkehrentscheidung eine Prüfung des Kindeswohls vorsehe, lässt außer Acht, dass unionsrechtlich eine behördliche Prüfung des Kindeswohls vor Erlass einer Rückkehrentscheidung erforderlich und allein eine Berücksichtigung des Kindeswohls innerhalb der gesetzlichen Systematik nicht hinreichend ist. Gerade das Argument der niederländischen Regierung, dass eine entsprechende Kindeswohlprüfungspflicht erst im Stadium der Abschiebung entstehe, hat der EuGH verworfen (EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 -, Rn. 50 ff.; ebenso: Anm. Roß, NVwZ 2021, 550, 553). Entsprechend lässt sich der Entscheidung des EuGH auch entnehmen, dass die Kindeswohlprüfung gerade nicht mehr ausschließlich der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben darf.
31 Dass die Kindeswohlprüfung nicht der Prüfung durch die Ausländerbehörde nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch das Bundesamt in Form der Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG vorbehalten bleiben darf, ergibt sich nach Ansicht der Kammer angesichts der Systematik der RFRL, ihres Erwägungsgrunds 22 sowie der genannten EuGH-Entscheidungen auch daraus, dass die Ausländerbehörde dann, wenn eine Abschiebung unmittelbar nach Bestandskraft der Rückkehrentscheidung durchgeführt werden soll, überhaupt keine anfechtbare behördliche Entscheidung mehr erlässt, sodass zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit besteht, eine behördliche Entscheidung betreffend das Kindeswohl, die den Formvorschriften des Art. 12 RFRL genügen müsste, zu überprüfen. Die lediglich statthafte Klage auf Aussetzung der Abschiebung bzw. der Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO genügen dabei den unionsrechtlichen Anforderungen an einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 RFRL nicht. Der EuGH hat bereits entschieden, dass die Garantie aus Art. 13 Abs. 2 RFRL nicht erst bei der Abschiebungsentscheidung, sondern bereits bei der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen ist, weil diese Garantie andernfalls durch den Nichterlass einer Abschiebungsentscheidung verzögert werden könnte (EuGH, Urteil vom 30.09.2020 - C-402/19 - <LM>, Rn. 47).
32 Im Übrigen versetzt der Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen, der anschließend nicht abgeschoben werden kann, diesen in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft, insbesondere in Bezug auf seine Schulausbildung oder die Möglichkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben, was den in Art. 5 lit. a RFRL und Art. 24 Abs. 2 GRCh vorgesehenen Anforderungen zuwiderläuft, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 14.01.2021 - C-441/19 -, Rn. 52 ff.). Dieser das Kindeswohl vorrangig im Sinne des Art 24 Abs. 2 GRCh erwägende Ansatz ist auch bei der Rückkehrentscheidung gegen ein die Personensorge und / oder den Umgang ausübendes Elternteil zu verfolgen. Denn auch bei Rückkehrentscheidungen gegen die Eltern ist – wie ausgeführt – das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 11.03.2021 - C-112/20 -, Rn. 43).
33 (3) Da im Eilrechtsbeschluss vom 15.09.2020 das Kindeswohl – damals in konsequenter nationaler Rechtsanwendung – nicht berücksichtigt worden ist und die oben genannte, später ergangene EuGH-Rechtsprechung zu einer veränderten Rechtslage führt, erscheint es durchaus möglich, dass eine günstige abändernde Entscheidung ergeht. Denn § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist folglich unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch die Prüfung des in Art. 5 lit. a RFRL aufgeführten Kindeswohlbelangs ungeschriebene Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung ist, während gleichzeitig § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs unangewendet bleiben muss, soweit eine Duldung aus denselben Gründen des Kindeswohls zu erteilen wäre. [...]