OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 12.07.2021 - 13 ME 18/21 - asyl.net: M29926
https://www.asyl.net/rsdb/m29926
Leitsatz:

Anhörung vor Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlich:

"Beseitigt die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis eine Fortbestehensfiktion nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, ist der Ausländer zuvor grundsätzlich nach § 28 VwVfG anzuhören"

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Verlängerungsantrag, Fortgeltungsfiktion, Anhörung, Betreuung, psychische Erkrankung, Fiktionswirkung, Ablehnungsbescheid, Verwaltungsverfahren, rechtliches Gehör,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, VwVfG § 28 Abs. 1, VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3
Auszüge:

[...]

4 Unter Anwendung dieses Maßstabs ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung geboten, denn die belastenden Regelungen in den Bescheiden des Antragsgegners vom 23. September 2020 und 29. Oktober 2020 erweisen sich schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.

5 a. Der Bescheid vom 23. September 2020 ist bereits formell rechtswidrig. Denn der Antragsteller ist vor Erlass dieses Bescheids nicht angehört worden, obwohl der Antragsgegner hierzu nach § 28 Abs. 1 VwVfG, das nach § 1 NVwVfG Anwendung findet, verpflichtet gewesen wäre. Gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG ist dem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners greift der Bescheid vom 23. September 2020, mit dem der Antrag des Antragstellers auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde, in die Rechte des Antragstellers ein. Die dem Antragsteller am 4. April 2016 erteilte und bis zum 14. August 2018 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [sic!, Bl. 559 d. VV] AufenthG galt aufgrund seines rechtzeitigen Antrags vom 26. Juli 2018 (Bl. 575 f. d. VV) nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG als fortbestehend. Durch den Bescheid vom 23. September 2020 wurde - entgegen dessen Wortlaut - nicht nur über den erneuten (unnöti - gen) Antrag des Antragstellers vom 11. August 2020 (Bl. 754 d. VV) entschieden, sondern inzident zugleich über den Antrag vom 26. Juli 2018. Durch die abschlägige Entscheidung wurde die Fiktionswirkung dieses Antrags beseitigt, so dass die Ablehnung des Antrags nicht nur die Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Gegenstand hat, sondern auch die Beendigung der Fiktion (vgl. statt aller Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 32; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 81 AufenthG Rn. 59; Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.4.2021, § 81 AufenthG Rn. 38). Durch letzteres wird in die Rechte des Antragstellers eingegriffen, da der zuvor legale Aufenthalt im Bundesgebiet durch die Ablehnung des Antrags unerlaubt wird. Entsprechend ist nach allgemeiner Meinung - wie vorliegend - im Eilverfahren ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO statthaft, um den Vollzug der Aufhebung der Fiktionswirkung auszusetzen (vgl. Bergmann/Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 47; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 81 AufenthG Rn. 59; Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.4.2021, § 81 AufenthG Rn. 48). Dies unterstreicht, dass durch die negative Entscheidung über den Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis im Falle des Vorliegens einer Fiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG zugleich eine den Antragsteller belastende Wirkung erzielt wird, die eine Anhörung des Betroffenen grundsätzlich erforderlich macht. [...]

7 Die erforderliche Anhörung ist nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Zwar ist die Durchführung der Anhörung geprägt vom Grundsatz der Nichtförmlichkeit, so dass die Anhörung schriftlich, elektronisch oder mündlich erfolgen kann; die Ausgestaltung liegt dabei im Verfahrensermessen der Behörde und muss sich an den Zwecken der Anhörungspflicht orientieren sowie die Umstände des Einzelfalls berücksichtigen (vgl. Schoch/Schneider (Hrsg.), VwVfG, § 28 Rn. 39, Stand: Juli 2020). Das vom Antragsgegner vorgetragene persönliche Gespräch mit dem Antragsteller am 11. August 2020 genügte aber diesen Anforderungen erkennbar nicht. Unabhängig davon, dass sich in den Verwaltungsvorgängen weder ein schriftlicher Vermerk über das Gespräch befindet noch die vom Antragsgegner vorgetragene vorherige Kommunikation mit dem Betreuer des Antragstellers, führen die vom Antragsgegner vorgetragenen Umstände des Gesprächs zu dem Schluss, dass eine ordnungsgemäße Anhörung am 11. August 2020 nicht durchgeführt werden konnte. Einerseits wurde das Gespräch allein mit dem Antragsteller geführt, obwohl dieser, wie dem Antragsgegner bekannt war, u.a. für den Aufgabenkreis "Rechts- / Antrags- und Behördenangelegenheiten" unter Betreuung gestellt ist. Andererseits führt der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 24. Juni 2021 selbst aus, dass der Antragsteller zu dem Termin am 11. August 2020 erschien, aber den Eindruck machte, dass er nicht voll aufnahmefähig sei. Die Durchführung einer formalen Anhörung sei mit dem Antragsteller in dessen Zustand nicht möglich gewesen. Auf Fragen habe er nicht geantwortet. Dieses Gespräch kann unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht als Anhörung i.S.d. § 28 Abs. 1 VwVfG angesehen werden, da der Antragsteller, wie für den Antragsgegner offensichtlich gewesen sein muss, allein nicht in der Lage gewesen ist, die Tragweite der anstehenden Entscheidung zu überblicken und seinen Standpunkt hierzu zu äußern. In diesem Einzelfall ist ferner zu berücksichtigen, dass der Bescheid erst 6 Wochen nach diesem Gespräch erlassen worden ist, mithin genügend Zeit verblieb, um eine Anhörung unter Beteiligung des Betreuers durchzuführen. Zudem wurde durch den Bescheid vom 23. September 2020 über einen Antrag vom 26. Juli 2018 entschieden, weshalb keine besondere Eilbedürftigkeit vorgelegen hat, zumal es dem Antragsgegner ausweislich des Bescheids sogar möglich war, die Mutter der gemeinsamen Kinder zur Stellungnahme aufzufordern und Rücksprache mit dem zuständigen Jugendamt in ... sowie der Wohneinrichtung ..., in der der Antragsteller derzeit wohnt, zu halten. Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer ordnungsgemäßen Anhörung des Antragstellers unter Beteiligung seines Betreuers entgegengestanden hätten. [...]

9 Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist die fehlende Anhörung nicht durch das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren und die Stellungnahmen des Antragstellers in diesem gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG geheilt worden. Eine Heilung setzt voraus, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren erfüllen diese Voraussetzungen nicht (BVerwG, Urt. v. 22.3.2012 - BVerwG 3 C 16.11 -, juris Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 30.4.2014 - 11 S 244/14 -, juris Rn. 94). Die Äußerungen des Antragstellers im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht konnten mithin eine Heilung nicht bewirken. Eine darüber hinausgehende Anhörung des Antragstellers durch den Antragsgegner wurde nicht durchgeführt. [...]