VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 22.07.2021 - 12 B 6051/20 - asyl.net: M29925
https://www.asyl.net/rsdb/m29925
Leitsatz:

Kein Aufenthalt nach § 25b AufenthG für Eheleute bei Umgehung des Visumsverfahrens:

Das Tatbestandsmerkmal "Leben in einer familiären Lebensgemeinschaft" des § 25b Abs. 4 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft durch eine visafreie Einreise hergestellt wurde und dadurch in einer Nachzugskonstellation das Visumverfahrens umgangen wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bleiberecht, Visumsverfahren, familiäre Lebensgemeinschaft, Integration, Familienzusammenführung, Umgehung, visafreie Einreise,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 4 S. 1, AufenthG § 25b Abs. 1,
Auszüge:

[...]

20 a) Gemäß § 25b Abs. 4 Satz 1 AufenthG soll dem Ehegatten, der mit einem Begünstigten nach Absatz 1 in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Zwar ist der Ehemann der Antragstellerin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG und sie lebt mit ihm in familiärer Gemeinschaft. Das  Tatbestandsmerkmal des Lebens in einer familiären Lebensgemeinschaft ist jedoch aus systematischen Gründen dahingehend einschränkend auszulegen, dass es nicht zu bejahen ist, wenn in Nachzugskonstellationen durch Umgehung des Visumsverfahrens eine familiäre Lebensgemeinschaft hergestellt wurde. Alternativ kann auch angenommen werden, dass dann ein atypischer Fall vorliegt, in dem die Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werden "soll". Die gesetzliche Konzeption sieht vor, dass für den Nachzug zu in Deutschland lebenden Familienangehörigen vom Ausland aus gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ein Visum einzuholen ist. Wenn dieses Visumsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt wird, ist der Anwendungsbereich von § 25b Abs. 4 AufenthG nicht eröffnet, weil die familiäre Lebensgemeinschaft eben noch nicht besteht, sondern erst hergestellt werden soll. Für den Familiennachzug hat der Gesetzgeber in §§ 27 ff. AufenthG umfangreiche Regelungen geschaffen. Für den Nachzug zu Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b hat er in § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG insbesondere normiert, dass eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden darf. Diese Regelung würde leerlaufen, wenn durch eine illegale Einreise eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne von § 25b Abs. 4 AufenthG geschaffen werden könnte. Da die Antragstellerin ohne das erforderliche Visum eingereist ist und nur deshalb bereits jetzt im Bundesgebiet mit ihrem Ehemann zusammenlebt, kann sie sich nicht auf § 25b Abs. 4 AufenthG berufen.

21 b) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nach §§ 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ausgeschlossen, weil keine humanitären Gründe im Sinne von § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG vorliegen. Die restriktive Regelung des § 29 Abs. 3 AufenthG wurde damit begründet, dass ein genereller Anspruch auf Familiennachzug zu aus humanitären Gründen aufgenommenen Ausländern die Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland zur humanitären Aufnahme unvertretbar festlegen und einschränken würde. Nicht familiäre Bindungen allein, sondern alle Umstände, die eine humanitäre Dringlichkeit begründen, seien für die Entscheidung maßgeblich, ob und wann welche Ausländer aus humanitären Gründen aufgenommen und ihnen der Aufenthalt im Bundesgebiet erlaubt werden solle. Ein dringender humanitärer Grund liege insbesondere vor, wenn die Familieneinheit auf absehbare Zeit nur im Bundesgebiet hergestellt werden könne (Bundestags-Drucksache 15/420, S. 81; zum letzteren auch Hessischer VGH, Beschl. v. 05.06.2012 – 3 B 823/12 –, juris Rn. 8). Demnach kann der Schutz von Ehe und Familie nur berücksichtigt werden, wenn er selbst eine humanitäre Dimension erreicht (Zeitler in HTK-AuslR, Stand 04.06.2017, zu § 29 Abs. 3 Rn. 9 f.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020; § 29 Rn. 36; Tewocht in BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition, Stand 01.01.2021, § 29 Rn. 9). Dies ist bei der Antragstellerin nicht der Fall. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb die erst kürzlich geschlossene Ehe nicht im gemeinsamen Herkunftsland der Antragstellerin und ihres Ehemannes geführt werden kann. Die Asylanträge beider Eheleute wurden bestandskräftig als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der Ehemann der Klägerin wurde zwar über einen längeren Zeitraum im Bundesgebiet geduldet und erhielt schließlich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG. Die Aussetzung seiner Abschiebung beruhte aber zunächst auf der Reiseunfähigkeit seiner später verstorbenen damaligen Ehefrau und danach auf einer Eingabe bei der Härtefallkommission. Nach dem Tod seiner Ehefrau im Februar 2017 und dem Abschluss des Härtefallverfahrens im Dezember 2020 bestehen keine Duldungsgründe mehr. Insbesondere stehen die Elternrechte und -pflichten des Ehemannes aus Art. 6 GG einer Aufenthaltsbeendigung nicht entgegen, weil sein mit ihm im Haushalt lebender Sohn mittlerweile volljährig ist. Er ist auch nicht als "faktischer Inländer" im Sinne von Art. 8 EMRK zu betrachten, da er erst im Jahr 2013 im Alter von 41 Jahren in die Bundesrepublik eingereist ist und vorher in Nordmazedonien gelebt hat. Deshalb kann nicht angenommen werden, dass er so gravierend entwurzelt ist, dass er sich in seinem Herkunftsland nicht mehr reintegrieren könnte (vgl. zur rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise aus Art. 8 EMRK Nds. OVG, Beschl. v. 17.08.2020 - 8 ME 60/20 -, juris Rn. 65). [...]