Innere Motivation der Einreise für Strafbarkeit unerheblich:
"Bei der Prüfung, ob eine unerlaubte Einreise oder ein unerlaubter Aufenthalt nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 und 3, § 96 Abs. 1 AufenthG vorliegt, ist bei einem von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 21 Abs. 1 SDÜ – vorbehaltlich der Regelung in § 95 Abs. 6 AufenthG – allein auf das objektive Kriterium eines gültigen Aufenthaltstitels abzustellen; auf den individuell verfolgten Aufenthaltszweck kommt es nicht an."
(Amtliche Leitsätze, Weiterführung von BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105)
[...]
42 (1) Die Frage, ob sich ein Drittausländer, der über einen von einem (anderen) Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten nationalen Aufenthaltstitel verfügt, nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 3 AufenthG strafbar macht, wenn er bereits bei der Einreise die Absicht hat, in Deutschland einen dauerhaften Aufenthalt zu begründen, ist – ebenso wie der parallel zu beurteilende Fall eines nationalen Visums für den längerfristigen Aufenthalt im Sinne des Art. 18 Abs. 1 SDÜ – bislang höchstrichterlich nicht entschieden.
43 (a) Der Bundesgerichtshof hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 27. April 2005 für ein für touristische Zwecke ausgestelltes Schengen-Visum im Sinne von Art. 19 Abs. 1 SDÜ die – bis dahin insbesondere zwischen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Rechtsprechung und Literatur – umstrittene Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer nicht über den erforderlichen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verfügt, dahingehend entschieden, dass nicht auf den für den konkreten Aufenthaltszweck im Einzelfall notwendigen Aufenthaltstitel abzustellen ist, sondern es allein auf das Vorliegen einer formell wirksamen Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung ankommt (BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105, 110 ff. mwN auch zum damaligen Streitstand). Für die Beurteilung strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen ist der Begriff der Erforderlichkeit nicht in einem materiell-ausländerrechtlichen Sinne zu beurteilen; eine unerlaubte Einreise und ein unerlaubter Aufenthalt liegen schon dann nicht vor, wenn der Ausländer über irgendeinen den Aufenthalt im Bundesgebiet erlaubenden Aufenthaltstitel verfügt, ohne dass es auf den individuell verfolgten Aufenthaltszweck ankommt (BGH, Urteil vom 27. April 2005 – 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105, 114 f.). Ausschlaggebend für die strafrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern nach objektiven Kriterien ist – so der Bundesgerichtshof in der damaligen Entscheidung – das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, dem bei der Auslegung von Straftatbeständen Rechnung getragen werden muss. Verwaltungsakzessorische Straftatbestände, die für ein unerlaubtes und deshalb strafbares Handeln oder Unterlassen das Fehlen einer verwaltungsrechtlichen Erlaubnis vorsehen, bedürfen eines eindeutigen Auslegungsmaßstabes in Bezug auf ihre verwaltungsrechtlichen Vorgaben. Würden – verborgene – materiell-rechtliche Mängel, etwa infolge von Täuschung oder sonstiger missbräuchlicher Verhaltensweisen des Erlaubnisadressaten, zum Abgrenzungskriterium des strafbaren und nicht strafbaren Verhaltens gemacht, so wären deren Voraussetzungen und Grenzen im Allgemeinen ungewiss, weil im Einzelfall von zufällig nachweisbaren und nicht nachweisbaren Tatumständen abhängig. Eine nach verwaltungsrechtlichen Vorschriften wirksam erteilte Aufenthaltsgenehmigung muss in den verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen des Aufenthaltsgesetzes daher grundsätzlich Tatbestandswirkung entfalten. Etwas anderes kann – so der Bundesgerichtshof in der damaligen Entscheidung – nur dort gelten, wo das Gesetz selbst durch Täuschung erschlichenen oder durch Drohung oder Bestechung erlangten Erlaubnissen die Wirksamkeit abspricht (so insgesamt BGH, aaO). Eine entsprechende Regelung hat der Gesetzgeber nunmehr in § 95 Abs. 6 AufenthG vorgesehen (zu dem Grundsatz der Verwaltungsakzessorietät und seinen Durchbrechungen in den Straftatbeständen des Aufenthaltsgesetzes vgl. BeckOK AuslR/Hohoff, 28. Ed., AufenthG § 95 Rn. 13 ff.; Mosbacher in: GK-AufenthG, Stand Juli 2008, vor § 95 Rn. 29 ff.).
44 (b) Hinsichtlich eines von einem (anderen) Mitgliedstaat ausgestellten nationalen Aufenthaltstitels vertreten die oberverwaltungsgerichtliche Rechtsprechung sowie Teile der verwaltungsrechtlichen Literatur die Auffassung, dass ein Drittausländer dann nicht aufgrund dieser Aufenthaltsbewilligung berechtigt sei, in das Bundesgebiet einzureisen und sich in der Folge hier aufzuhalten, wenn er bereits mit der Absicht der Begründung eines Daueraufenthalts einreist (vgl. OVG der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 9. März 2020 – 2 B 318/19 Rn. 9; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2019 – OVG 11 S 21.18 Rn. 8; BayVGH, Beschluss vom 28. Februar 2019 – 10 ZB 18.1626 Rn. 12; Hamburgisches OVG, InfAuslR 2018, 400, 401 f.; OVG NRW, NVwZ-RR 2016, 354, 356; LG Hof, Urteil vom 20. April 2017 – 5 KLs 354 Js 1442/16 Rn. 77; BeckOK AuslR/Dollinger, 28. Ed., AufenthG § 14 Rn. 19, Schott-Mehrings, Ausländerrecht für die Polizei, 2. Aufl. S. 151 f.; zu einem Visum für den längerfristigen Aufenthalt nach Art. 18 SDÜ: Hessischer VGH, InfAuslR 2014, 435, 436; OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Juli 2014 – 2 M 23/14 Rn. 14 ff.).
45 Die durch Art. 21 SDÜ vermittelte Bewegungsfreiheit im Schengen-Gebiet setze tatbestandlich voraus, dass bereits bei der Einreise und während des gesamten Aufenthalts die in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a), c) und e) SKG aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllt sein müssten; daraus, dass der Drittausländer gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. c) SGK bei seiner Einreise den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts verfügen müsse, folge, dass die Absicht des Drittausländers, den zeitlich zulässigen Aufenthalt von 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen zu überschreiten und stattdessen unter Umgehung des nationalen Visumverfahrens einen Daueraufenthalt im Inland zu begründen, beachtlich sei und die Privilegierung des Art. 21 Abs. 1 SDÜ entfallen lasse (OVG der Freien Hansestadt Bremen, Urteil vom 9. März 2020 – 2 B 318/19 Rn. 10).
46 Auch Sinn und Zweck der durch Art. 21 Abs. 1 SDÜ gewährten Privilegierung gebiete ihre Beschränkung auf Fälle, in denen die Einreise von Drittausländern nicht von vornherein zum Zweck des Daueraufenthalts erfolge. Beabsichtige der Ausländer bereits bei der Einreise einen Daueraufenthalt, so sei das Interesse des Mitgliedstaates, mit dem Instrument des Visumverfahrens die Zuwanderung in sein Gebiet wirksam zu steuern und zu begrenzen, bereits zum Zeitpunkt der Einreise und nicht erst nach Ablauf eines Aufenthalts von 90 Tagen berührt (Hamburgisches OVG, InfAuslR 2018, 400, 402). Eine Gleichbehandlung von Schengen-Visa, deren Inhaber nicht unerlaubt im Sinne von § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in das Bundesgebiet einreisten, auch wenn sie schon im Zeitpunkt der Einreise einen längerfristigen Aufenthalt anstrebten (BVerwG, BVerwGE 138, 353, 362), und nationalen Aufenthaltstiteln anderer EU-Mitgliedstaaten sei nicht geboten, da bei letzteren – im Gegensatz zu Schengen-Visa – keine wirksame verwaltungsbehördliche Erlaubnis zur Einreise vorliege (vgl. Hamburgisches OVG, InfAuslR 2018, 400, 403).
47 (c) Demgegenüber sind insbesondere die strafrechtliche Literatur und Rechtsprechung sowie einzelne Verwaltungsgerichte – ausgehend von der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005 – der Auffassung, dass für die strafrechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einreise und des Aufenthalts allein auf das objektive Kriterium des Vorliegens eines gültigen nationalen Aufenthaltstitels eines (anderen) Mitgliedstaats im Sinne von Art. 21 Abs. 1 SDÜ abzustellen sei; ob die in Art. 6 SGK normierten Einreisevoraussetzungen gegeben seien, sei unerheblich (vgl. OLG Celle, Nds. Rpfl. 2014, 257, 258; VG Aachen, Urteil vom 13. April 2016 – 8 K 669/15 Rn. 48 ff.; Erbs/Kohlhaas/Senge, Stand Oktober 2020, AufenthG § 14 Rn. 2; Mosbacher in: Kluth u.a., Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl., § 10 Rn. 13; so auch aus der verwaltungsrechtlichen Literatur: Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Stand September 2019, § 14 Rn. 28, 31; Winkelmann/Kolber und Winkelmann/Stephan in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 14 Rn. 12; § 95 Rn. 43; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Februar 2016, § 95 Rn. 54; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl., § 7 Rn. 135; zu Art. 18 SDÜ: VG Karlsruhe, Urteil vom 6. März 2018 – 1 K 2902/16 Rn. 47 ff.).
Von einem erforderlichen eindeutigen Auslegungsmaßstab im Sinne des verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheitsgrundsatzes von Strafbestimmungen nach Art. 103 Abs. 2 GG könne anderenfalls angesichts der unbestimmten und einen zu großen Interpretationsspielraum lassenden Rechtsbegriffe in Art. 6 Abs. 1 Buchst. a), c) und e) SGK nicht gesprochen werden (vgl. OLG Celle, Nds. Rpfl. 2014, 257, 258 noch zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. a), c) und e) SDÜ aF; vgl. auch Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Stand September 2019, § 14 Rn. 27).
(2) Der Senat entscheidet die Frage im Sinne der letztgenannten Auffassung. Die formelle Betrachtung beansprucht auch für den Fall des von einem (anderen) Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgestellten nationalen Aufenthaltstitels Geltung, für den nichts anderes gelten kann als für das Schengen-Visum. Auch insoweit ist lediglich auf das Vorliegen eines gültigen Aufenthaltstitels abzustellen, welcher nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ das Recht auf freien Personenverkehr im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten beinhaltet und damit auch zur Einreise und zum Kurzaufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. [...]