OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.06.2020 - 2 M 35/20 - asyl.net: M29890
https://www.asyl.net/rsdb/m29890
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz zur Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis; Rückführung nach vollzogener Abschiebung

1. Eine Beschwerde gegen eine den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnende Entscheidung eines Verwaltungsgerichts wird nicht aufgrund der Abschiebung des rechtsschutzsuchenden Ausländers während des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens unzulässig (Rn. 16).

2. Allein aus der Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Ausländerbehörde die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 S. 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) angeordnet hat. Jedoch kann sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls eine konkludente Anordnung der Fortgeltungswirkung ergeben. Das kann der Fall sein, wenn der Sachbearbeiter die Bescheinigung in dem Bewusstsein ausgestellt hat, dass der Ausländer den Verlängerungsantrag nicht fristgemäß gestellt hat (Rn. 19).

3. Ein bei der Ausländerbehörde gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bezieht sich nur auf die nach Lage der Dinge in Betracht kommenden Aufenthaltstitel. Ein Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ist nicht als solcher auf Ehegatten­nachzug nach § 30 Abs. 1 AufenthG (juris: AufenthG 2004) zu verstehen, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung für eine Ehe nichts ersichtlich ist (Rn. 34).

4. Stellt der Ausländer nach der ablehnenden Entscheidung der Ausländerbehörde über einen Verlängerungs­antrag einen weiteren Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, kann dieser weitere Antrag eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG (juris: AufenthG 2004) nicht auslösen (Rn. 34).

5. Hat ein Antrag auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis weder eine gesetzliche noch eine angeordnete Fiktionswirkung, die durch eine ablehnende Entscheidung der Ausländerbehörde beendet werden könnte, kommt vorläufiger Rechtsschutz nur nach § 123 VwGO in Betracht (Rn. 48).

6. Greift § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO nicht ein, ist der Folgenbeseitigungsanspruch nach einer erfolgten Abschie­bung in einem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend zu machen. Begehrt der Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren die Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO, handelt es sich um eine Antragsänderung, die im Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 VwGO in der Regel unzulässig ist (Rn. 53).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Fortgeltungsfiktion, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Ehegattennachzug, Abschiebung, Rechtsmittel, Folgenbeseitigungsanspruch, einstweilige Anordnung, Beschwerde, Antragsänderung,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5 S. 3, VwGo § 123, VwGO § 146 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

16 b) Der Antrag ist nicht deshalb unzulässig geworden, weil der Antragsteller vor der Beschwerdeerhebung abgeschoben wurde. Das Rechtsschutzbedürfnis ist wegen der Abschiebung nicht entfallen. Eine Beschwerde gegen eine den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ablehnende Entscheidung eines Verwaltungsgerichts wird nicht aufgrund der Abschiebung des rechtsschutzsuchenden Ausländers während des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens unzulässig. Dies folgt aus dem in § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO gesetzlich eingeräumten Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch, der den Fortbestand der Zulässigkeit voraussetzt. Entsprechendes gilt für den Fall, dass der Ausländer nach der Ablehnung eines Antrags nach § 80 Abs. 7 VwGO durch das Verwaltungsgericht und vor der Einlegung einer Beschwerde abgeschoben wird (Beschluss des Senats vom 9. Juli 2019 - 2 M 53/19 - juris Rn. 12). [...]

19 [...] Die Fiktion der Fortgeltung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 VwGO wurde durch den ablehnenden Bescheid vom 2. Mai 2019 beendet. Zwar hat der Antragsteller die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht - wie es § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG verlangt - vor dem Ablauf des Aufenthaltstitels (am 25. Januar 2019), sondern erst am 29. Januar 2019 beantragt. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage geht der Senat jedoch davon aus, dass der Beigeladene als (in diesem Zeitpunkt) zuständige Ausländerbehörde die Verlängerung der Fortgeltungswirkung des Aufenthaltstitels gemäß § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG zur Vermeidung einer unbilligen Härte (konkludent) angeordnet hat. Eine solche Anordnung ergibt sich zwar nicht allein daraus, dass der Beigeladene dem Antragsteller am Tag der Einreichung des Verlängerungsantrags eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt hat. Allein aus der Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG kann nicht darauf geschlossen werden, dass die Ausländerbehörde die Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG angeordnet hat (OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 2. August 2019 - OVG 11 N 122.16 - juris Rn. 7; OVG Brem, a.a.O.; Nds OVG, Urteil vom 8. Februar 2018 - 13 LB 43/17 - juris Rn. 92). Jedoch kann sich aus besonderen Umständen des Einzelfalls eine konkludente Anordnung der Fortgeltungswirkung ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. August 2019 - 1 C 23.18 - juris Rn. 28). Solche Umstände liegen hier vor. Die Ausländerbehörde des Beigeladenen wurde kurz vor der Antragstellung von der Polizei darüber informiert, dass der Antragsteller bei der Ausweiskontrolle vor einem geplanten Flug nach H-Stadt eine am 25. Januar 2019 abgelaufene Aufenthaltserlaubnis vorgelegt hatte. Zudem hat der Antragsteller glaubhaft erklärt, dass ihn die Sachbearbeiterin des Beigeladenen bei der Antragstellung auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis am 29. Januar 2019 ermahnt hat, künftig besser auf das Ablaufdatum zu achten. Hiervon ausgehend war sich die Sachbearbeiterin darüber bewusst, dass der Antragsteller die Antragsfrist versäumt hatte. Sie wird sich demgemäß auch darüber im Klaren gewesen sein, dass die Fortgeltungswirkung der Aufenthaltserlaubnis allein mit der Antragstellung nicht begründet wurde. Hat sie gleichwohl eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt, liegt darin die konkludente Anordnung der Fortgeltungswirkung nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG. [...]

35 Die durch den Antrag vom 29. Januar 2019 und die (konkludente) Entscheidung des Beigeladenen nach § 81 Abs. 4 Satz 3 AufenthG begründete Fortgeltungsfiktion endete mit der Entscheidung des  Antragsgegners zu 1. über den Antrag mit dem Bescheid vom 2. Mai 2019. Ein nach der ablehnenden Entscheidung der Ausländerbehörde gestellter weiterer Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis löst keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG aus (Kluth, in: BeckOK AuslR, 25. Ed. 1. November 2019, § 81 Rn. 38 f.; BayVGH, Beschluss vom 7. März 2016 - 10 ZB 14.822 - juris Rn. 9; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 1987 - 1 B 213.86 - juris Rn. 7). § 81 Abs. 4 AufenthG gewährt nur für ein Antragsverfahren, das heißt bis zur Bescheidung des ersten Antrags auf Verlängerung des bisherigen oder Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels, ein fiktives Aufenthaltsrecht (Kluth, a.a.O., Rn. 40; OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 - 18 A 2620/08 - juris Rn. 23). [...]

48 2. [...] Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nicht statthaft. Die mit dem Bescheid vom 19. Februar 2020 beschiedenen Anträge vom 29. Oktober 2019 und 1. November 2019 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst, da sie erst nach Ablauf der früheren Aufenthaltserlaubnis gestellt wurden. Hat ein Antrag auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis weder eine gesetzliche noch eine angeordnete Fiktionswirkung, die durch eine ablehnende Entscheidung der Ausländerbehörde beendet werden könnte, kommt vorläufiger Rechtsschutz nur nach § 123 VwGO in Betracht (vgl. Beschluss des Senats vom 17. Januar 2019 - 2 M 153/18 - juris Rn. 13; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 10. Oktober 2018 - OVG 3 S 64.18 - juris Rn. 5). [...]

53 [...] Greift § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO nicht ein, ist der Folgenbeseitigungsanspruch nach einer erfolgten Abschiebung in einem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO geltend zu machen. Begehrt der Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren die Rückführung in die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO, handelt es sich um eine Antragsänderung, die im Beschwerdeverfahren nach § 146 Abs. 4 VwGO in der Regel unzulässig ist. Aus dem Erfordernis, dass sich die Beschwerdebegründung mit der angefochtenen Entscheidung auseinanderzusetzen hat (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO), ergibt sich, dass eine Beschwerde mit einem in erster Instanz nicht gestellten und daher vom Verwaltungsgericht nicht beschiedenen Antrag unzulässig ist. § 146 Abs. 4 VwGO ist zu entnehmen, dass das Beschwerdeverfahren in Eilsachen möglichst zügig und beschränkt auf die Gründe durchgeführt werden soll, die in Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts und mit dem erstinstanzlichen Streitgegenstand geltend gemacht werden können. Eine Antragsänderung ist danach insbesondere dann unzulässig, wenn damit eine wesentliche Änderung der zu prüfenden Gesichtspunkte einhergeht (vgl. Beschluss des Senats vom 21. Mai 2019 - 2 M 49/19 - juris Rn. 8; HmbOVG, Beschluss vom 2. August 2019 - 4 Bs 219/18 - juris Rn. 14). [...]