OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.01.2021 - - asyl.net: M29884
https://www.asyl.net/rsdb/m29884
Leitsatz:

Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings nach Verurteilung u.a. wegen Drogendelikten

"1. Ein Rechtsschutzbedürfnis für ein Verfahren auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung entfällt nicht schon dann, wenn der Ausländer bereits aus einem weiteren Grund gemäß § 58 Abs. 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) vollziehbar ausreisepflichtig ist (Rn. 23).

2. Die Ausnahmebestimmung "Gefahr für die Allgemeinheit" im Sinne des § 53 Abs. 3a AufenthG (juris: AufenthG 2004) setzt nicht nur voraus, dass der Flüchtling wegen einer schweren Straftat verurteilt worden ist, sondern auch die Feststellung einer Verbindung zwischen der Straftat, für die er verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht (Rn. 30)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Flüchtlingsanerkennung, Widerrufsverfahren, Straftat, Drogendelikt, Gefahr, Gefahr für die Allgemeinheit, Kausalität,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 3a,
Auszüge:

[...]

23 [...] Ein Rechtsschutzbedürfnis für ein Verfahren auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung entfällt nicht schon dann, wenn der Ausländer - wie hier - bereits aus einem weiteren Grund gemäß § 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist. An dem Rechtsschutzinteresse für einen solchen Antrag bestehen entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin keine Zweifel. Ein Rechtsschutzinteresse ist schon deshalb zu bejahen, weil sich die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nur auf dem Weg über eine solche gerichtliche Entscheidung herstellen lässt und die aufschiebende Wirkung dem Antragsteller auf jeden Fall eine günstigere Rechtsposition vermittelt. Es besteht ein berechtigtes Interesse daran, vor einer sonst möglichen Vollziehung der Ausweisung rechtlich durch Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs - und nicht nur tatsächlich durch Erteilung von Duldungen seitens der Antragsgegnerin - geschützt zu sein. Solange über eine Ausweisung nicht unanfechtbar entschieden wurde, ist Eilrechtsschutz im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren. Außerdem steht den Beteiligten bis zum Eintritt der Bestandskraft der Ausweisungsverfügung die Beschwerde gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts offen. Für den betroffenen Ausländer folgt dies aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG). Dem korrespondiert ein berechtigtes Interesse des Trägers der zuständigen Ausländerbehörde in seiner Funktion als Antragsgegner, stattgebende Eilrechtsschutzentscheidungen des Verwaltungsgerichts einer Überprüfung durch das Beschwerdegericht unterziehen zu lassen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. September 2005 - 1 VR 5.05 - juris Rn. 2; Beschluss vom 13. September 2011 - 1 VR 1.11 - juris Rn. 8; VGH BW, Beschluss vom 19. Juli 2019 - 11 S 1631/19 - juris Rn. 5).

24 Der Senat vermag die Auffassung nicht zu teilen, ein Rechtsschutzinteresse für Verfahren der vorliegenden Art fehle bei bereits bestehender vollziehbarer Ausreisepflicht aus anderen Gründen (so aber VGH BW, Beschluss vom 7. Februar 1996 - 11 S 73/96 - juris Rn. 3; SächsOVG, Beschluss vom 24. März 1997 - 3 S 513/96 - juris; BremOVG, Beschluss vom 19. März 1998 - 1 BB 68/98 - juris Rn. 9; Beschluss vom 30. Juni 2020 - 2 B 147/20 - juris Rn. 10). Denn ein schutzwürdiges Interesse an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen eine Ausweisungsverfügung lässt sich allein darauf stützen, dass im Falle des Erfolges des Antrages ein selbständiger Grund für die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht entfällt. Der Ausländer erlangt insoweit einen rechtlichen Vorteil schon dadurch, dass er aufgrund eines bestimmten Verwaltungsaktes nicht mehr ausreisepflichtig ist. Zwar bleibt der Ausländer auch in diesem Fall weiterhin vollziehbar ausreisepflichtig. Sobald jedoch der andere Grund für die vollziehbare Ausreisepflicht wegfällt und der Ausländer sich - aus welchen Gründen auch immer - noch im Bundesgebiet aufhält, gewinnt die aufgrund der für sofort vollziehbar erklärten Ausweisungsverfügung bestehende vollziehbare Ausreisepflicht wieder rechtliche Bedeutung. Insoweit erweist sich der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht als von vornherein nutzlos (vgl. Beschluss des Senats vom 22. Februar 2000 - B 2 S 504/99 - juris Rn. 6; ebenso: HessVGH, Beschluss vom 20. Februar 1995 - 12 TH 2253/94 - juris Rn. 2; Beschluss vom 20. Januar 2004 - 12 TG 3204/03 - juris Rn. 5; VGH BW, Beschluss vom 11. September 2008 - 11 S 2042/08 - juris Rn. 10; Beschluss vom 26. Januar 2010 - 11 S 2482/09 - juris Rn. 15; NdsOVG, Beschluss vom 19. Mai 2010 - 11 ME 133/10 - a.a.O. Rn. 9; Cziersky-Reis, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 53 AufenthG Rn. 56). Soweit der Senat zwischenzeitlich die Auffassung vertreten hat, das Rechtsschutzinteresse für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Ausweisungsverfügung entfalle grundsätzlich, wenn der Ausländer bereits aus einem anderen Grund vollziehbar ausreisepflichtig sei (vgl. Beschluss vom 11. Oktober 2007 - 2 M 206/07 - juris Rn. 3), hält er hieran nicht mehr fest. [...]

28 Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 5. Mai 2020 die (erhöhten) Anforderungen des besonderen Ausweisungsschutzes für anerkannte Flüchtlinge gemäß § 53 Abs. 3a AufenthG nicht hinreichend beachtet. [...]

30 Mit der durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) in das AufenthG eingefügten Regelung des § 53a AufenthG sollten die Schwellen des Ausweisungsschutzes für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge auf den Kern der europa- und völkerrechtlichen Vorgaben zurückgeführt werden. Damit sollten die Möglichkeiten, bei schutzberechtigten Intensivstraftätern im Einzelfall ein Überwiegen des öffentlichen Ausreiseinteresses zu begründen, erleichtert werden. Diese Durchbrechung des Refoulement-Verbots ist als Ausnahmeregelung im Sinne einer ultima ratio eng auszulegen. Da dem Wortlaut nach die Gefahr von dem Ausländer selbst ausgehen muss ("er"), ist klargestellt, dass eine Ausweisung nur aus spezialpräventiven, nicht aber aus generalpräventiven Gründen möglich ist (vgl. BT-Drs. 19/10047, S. 34; Fleuß, in: Kluth/Heusch, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 126). Die Tatbestandsalternativen "er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist" bilden den Regelungsbereich der Ausweisung von Gefährdern beziehungsweise Terrorverdächtigen ab. Demgegenüber stellt der Ausländer eine "Gefahr für die Allgemeinheit" i.S.d. § 53 Abs. 3a AufenthG dar, wenn er wegen einer schweren Straftat verurteilt wurde und die Erwartung berechtigt ist, er werde auch in Zukunft schwere Straftaten begehen. Die Ausnahmebestimmung "Gefahr für die Allgemeinheit" setzt nicht nur voraus, dass der Flüchtling wegen einer schweren Straftat verurteilt worden ist, sondern auch die Feststellung einer Verbindung zwischen der Straftat, für die er verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht: Die Person muss aufgrund der konkreten von ihr begangenen Straftat eine Gefahr darstellen. Es reicht nicht aus, dass beispielsweise aufgrund ihres allgemeinen Verhaltens, das nicht zu einer Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat geführt hat, oder aufgrund mehrerer Verurteilungen wegen weniger schwerwiegender Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht (vgl. VG Bremen, Beschluss vom 13. Juli 2020 - 2 V 199/20 - juris Rn. 43; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 98; Fleuß, in: Kluth/Heusch, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 124). Typischerweise sind etwa Vergewaltigung, Drogenhandel, versuchter Mord, schwerer Raub oder schwere Körperverletzung besonders schwere Straftaten; allerdings entbindet dies nicht von der Prüfung, ob die kriminelle Handlung im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend zu betrachten ist. Anhaltspunkte für eine solche Einzelfallprüfung ergeben sich aus der vom European Asylum Support Office (EASO) herausgegebenen "Richterlichen Analyse, Beendigung des internationalen Schutzes: Artikel 11, 14, 16 und 19 der Anerkennungsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU)", 2018, S. 54 ff. (https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/ending-international-protection_de.pdf) (vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 53 AufenthG Rn. 98). [...]