VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 26.07.2021 - 3 A 5605/18 - asyl.net: M29871
https://www.asyl.net/rsdb/m29871
Leitsatz:

Keine Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist bei einstweiligem Rechtsschutz wegen inlandsbezogener Abschiebungshindernisse:

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen einen Dublin-Bescheid führt dann nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist, wenn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit dem Vorliegen von inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen begründet wird (hier rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung aus familiären Gründen).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Suspensiveffekt, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Unterbrechung, Unterbrechung der Frist, Überstellungsfrist, Schutz von Ehe und Familie, einstweilige Anordnung,
Normen: EMRK Art. 8, GG Art. 6, AufenthG § 60a Abs. 2, VO 604/2013/EU Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013/EU Art. 18 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Auf
den im Nachgang gestellten Antrag des Klägers (im entsprechenden Eilrechtsverfahren: Antragsteller) gemäß § 80 Abs. 7 VwGO (Az. 3 B 6603/18) hat das Gericht den vorbezeichneten Beschluss mit Beschluss vom ... November 2018 abgeändert und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid angeordnet. Hierbei stützte sich das Gericht auf Art. 8 Abs. 1 EMRK wegen des Verhältnisses des Klägers zu seinem minderjährigen Bruder; letzterer sei auf den Beistand und die Pflege durch den Kläger angewiesen. [...]

Zwar hat das erkennende Gericht mit Beschluss vom ... November 2018 die aufschiebende Wirkung der Klage, soweit sie sich gegen die Anordnung der Abschiebung des Klägers nach Rumänien richtet, angeordnet. Damit ist aber eine Unterbrechung der Überstellungsfrist nicht eingetreten. Denn tragende Grundlage für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war allein die Annahme eines inländischen Vollstreckungshindernisses (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK), das einer Abschiebung des Klägers entgegenstand bzw. möglicherweise noch entgegensteht. Unschädlich ist hierbei, dass das Gericht in seinem vorbezeichneten Beschluss (fälschlicherweise) von dem Vorliegen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG aufgrund des o. g. Sachverhalts ausgegangen war. Denn tatsächlich ergibt sich aus der Betroffenheit des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK lediglich, dass der Tatbestand des § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt ist. Hiernach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Von Rechts wegen unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie im Verhältnis zu dem  etroffenen rechtlich ausgeschlossen ist, wenn sich also aus nationalem oder internationalem Recht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (Bergmann/Dienelt/Bauer/Dollinger AufenthG § 60a Rn. 18-33, beck-online). Die (gerichtliche) Feststellung eines allein inländischen Vollstreckungshindernisses führt aber nicht zur Unterbrechung der Überstellungsfrist. Der Einzelrichter schließt sich insoweit der Rechtsauffassung des VG Düsseldorf in seinem Urteil vom 13. Februar 2019 (Az. 15 K 15396/17.A, juris) an. Letzteres hat in dem vorbenannten Urteil u. a. zutreffend ausgeführt (VG Düsseldorf, Urteil vom 13. Februar 2019 – 15 K 15396/17.A –, Rn. 24 - 48, juris):

" [...] Denn die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Überstellungsentscheidung und die einer Abschiebungsanordnung im Sinne von § 34a AsylG sind nur zum Teil identisch. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Damit setzt der Erlass der Abschiebungsanordnung nicht nur voraus, dass der Zielstaat der Abschiebung der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat ist (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG), sondern enthält auch die nach Maßgabe der §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7, 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG implizit zu treffende Feststellung ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann"), dass der Überstellung bzw. Abschiebung weder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote noch inlandsbezogene Vollzugshindernisse entgegenstehen (BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14 -, juris, Rdnr. 9. m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 2. Januar 2019 - 13 A 4599/19.A -, juris, Rdnr. 8, m.w.N.).

Demgegenüber beinhaltet die Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 26 Dublin III-VO keine Entscheidung über die praktische Durchführbarkeit der Überstellung. Die Frage, ob ein Asylbewerber reisefähig ist, ist auch nicht Grundlage der Überstellungsentscheidung; ihre Beantwortung lässt die Rechtmäßigkeit einer Überstellungsentscheidung damit unberührt.

Nach den Vorschriften der Dublin III-VO ist für den Erlass der Überstellungsentscheidung allein maßgeblich, ob der Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, zuständig ist. So erlässt ein Mitgliedstaat gemäß Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO die Überstellungsentscheidung, wenn der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme des Asylsuchenden - ausdrücklich oder konkludent - zugestimmt hat. Nach den in Kapitel III der Dublin III-VO niedergelegten materiellen Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats kommt der Frage, ob die Überstellung eines Asylsuchenden wegen dessen Gesundheitszustandes problematisch oder undurchführbar sein könnte, keine Bedeutung zu. Die Bejahung der Reisefähigkeit des Betreffenden ist damit auch nicht Voraussetzung für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchens nach Art. 21 ff. Dublin III-VO, auf welches die ausdrückliche oder fiktive Annahme durch den ersuchten Mitgliedstaat folgt. Dem entsprechend läuft die Überstellungsfrist erstmals mit der Annahme eines solchen Ersuchens an (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO). [...]

Der gesundheitliche Zustand eines Asylsuchenden im Sinne einer Reiseunfähigkeit ist jedoch lediglich für die Entscheidung maßgeblich, ob die bereits getroffene Überstellungsentscheidung tatsächlich vollzogen werden kann. So erfolgt die Überstellung gemäß Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO "sobald dies praktisch möglich ist und innerhalb einer Frist von sechs Monaten". Aus der systematischen Stellung des Art. 29 Dublin III-VO im Abschnitt "VI. Überstellung" wie auch anhand der Überschrift "Modalitäten und Fristen" lässt sich ersehen, dass die Klärung der praktischen Durchführbarkeit der Überstellung der Überstellungsentscheidung nachfolgt. [...]

Ist nach alledem die Frage der Reisefähigkeit des Asylsuchenden nicht Gegenstand der Überstellungsentscheidung im Sinne von Art. 26 Dublin III-VO, rechtfertigt das Vorliegen von Reiseunfähigkeit es nicht, im Anschluss an die gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG kraft Gesetzes eingetretene Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die  Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO anzuordnen. Anderenfalls würde - durch die mit der aufschiebenden Wirkung eintretende Unterbrechung der Überstellungsfrist, Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO - die Zuständigkeit abweichend von den Vorgaben der Dublin III-VO bestimmt.

Vielmehr ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nicht mehr zur Aufnahme eines Asylsuchenden verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, sofern der Gesundheitszustand des Betreffenden es dem ersuchenden Mitgliedstaat nicht erlaubt hat, ihn vor Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Frist von sechs Monaten zu überstellen. [...]" [...]