VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 04.06.2021 - 4 A 732/17 - asyl.net: M29858
https://www.asyl.net/rsdb/m29858
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für zum Christentum konvertierten kurdischen Schutzsuchenden aus dem Irak:

"Verfolgung im Nordirak aufgrund der Konversion zum Christentum ist im Einzelfall denkbar, insbesondere wenn das Christentum offen und nachdrücklich gelebt wird (Rn. 20)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurden, Konvertiten, Christen, religiöse Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

11 Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er dieser Feststellung entgegensteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

14 Vorliegend ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger aufgrund seiner Konversion zum Christentum im Falle seiner Rückkehr in den Irak Verfolgungshandlungen i. S. des § 3 a Abs. 1 AsylG jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure (§ 3 c Nr. 3 AsylG) drohen. [...]

18 Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass die Hinwendung des Klägers zum christlichen Glauben auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Klägers prägt. Das Gericht hat den Kläger im Abstand von zwei Jahren zweimal angehört. Bereits bei der 1. Anhörung erklärte der Kläger, er habe sich vom Islam abgekehrt, weil der IS im Namen dieses Glaubens Massaker verübt habe. Im Namen des Islam seien Leute umgebracht worden. Er hat bereits damals berichtet, dass seine Familie mehr Beziehungen zu yezidischen Familien gehabt habe als zu den Moslems. Dennoch war das Gericht zum damaligen Zeitpunkt nicht überzeugt, dass der Kläger tatsächlich zum Christentum konvertiert ist, da es nicht sicher war, ob dem Kläger nicht einfach nur die Gemeinschaft einer Kirche angenehm war, er aber deren Überzeugungen nicht wirklich teilte. Das Gericht hat dem Kläger in der damaligen mündlichen Verhandlung auch erklärt, dass es von seiner Konversion nicht überzeugt sei. Das Gericht ist indes nunmehr überzeugt davon, dass der Kläger tatsächlich konvertiert ist, denn er hat zum einen sein Engagement in der Kirche nicht etwa aufgegeben, nachdem für ihn erkennbar sein musste, dass dies nicht zu einer Flüchtlingszuerkennung führt. Vielmehr hat er sich weiter in der Kirche engagiert und hat sich taufen lassen. Zudem hat der Kläger es nicht etwa nur dabei belassen, sondern hat auch die Patenschaft für ein kleines Kind übernommen und füllt die Rolle des Paten auch aus. Offensichtlich ist er auch bereit, die auch in Deutschland mit einer Konversion verbundenen Gefahren dergestalt auf sich zu nehmen, dass er auch anderen Moslems von seiner Konversion berichtet. Der Kläger ist sichtlich von der Religion, die für ihn neu ist, erfüllt. Und er ist ersichtlich bestrebt, dies auch nach außen kund zu tun. [...]

21 Das Gericht meint, dass es in diesem Einzelfall beachtlich wahrscheinlich ist, dass der Kläger von der kurdischen Gesellschaft bei Rückkehr in die autonome Region Kurdistan aufgrund der Konversion verfolgt wird. Der Abfall vom Islam ist im Irak nicht gesetzlich verboten. Auch sehen weder das Zivilrecht noch das Strafrecht eine Strafe hierfür vor. Indes legt die irakische Verfassung den Islam als Staatsreligion fest und das irakische Strafgesetzbuch kennt die Tatbestände der Blasphemie, Gotteslästerung und Verächtlichmachung religiöser Bekenntnisse und sieht hierfür Haft bis zu drei Jahren vor. Die Konversion ist ebenfalls nicht strafrechtlich verboten. Es besteht ein gesetzlicher Widerspruch zwischen den garantierten Rechten einerseits und den Islam als Rahmen für die Gesetzgebung andererseits, der dazu führt, dass es bei der Anwendung der Gesetze Spielraum für unterschiedliche Auslegungen gibt. So ist es auf der einen Seite erlaubt, seinen Glauben frei zu wählen, andererseits ist der Abfall vom Glauben strafbar, so dass dies eine Strafverfolgung nach sich ziehen kann. Die Richter können das Recht frei nach religiösen Regeln interpretieren und in Ermangelung spezialgesetzlicher Regelung auf islamische Regelungen zurückgreifen, da der Islam die Hauptquelle der Gesetzgebung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht (März 2020), S. 12); VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 - 6 A 612/17-, juris). Danach wird die Konversion vom Islam als unnatürlich angesehen. Es besteht zwar das Recht, zum Islam zu konvertieren, es gibt aber nicht das Recht zur Konversion vom Islam zu anderen Religionen. Dementsprechend können Muslime, die eine andere Religion wählten, dies nicht im Personalausweis eintragen lassen (vgl. The Danish Immigration Service, Women and men in honour-related conflicts, November 2018, S. 57). In der irakischen Gesellschaft sei die Feindseligkeit gegenüber Konvertiten weit verbreitet und Familien und Stämme insbesondere, aber auch die Gesellschaft sähen Konversion als Verletzung der kollektiven Ehre an. Eine öffentliche Konversion würde nicht nur zur Ausgrenzung oder Gewalt durch die Gemeinschaft, den Stamm oder die Familie führen, sondern auch zu Gewalt durch islamistische Gruppen. (vgl. The Danish Immigration Service, a.a.O.). Nach dieser Auskunft gibt es eine unbekannte Anzahl vom Islam zum Christentum Konvertierter, die ihre Religion aber nicht öffentlich ausübten.

22 Die Religionszugehörigkeit kann, wie oben ausgeführt, nicht im Personalausweis geändert werden, ein konvertierter Mann kann keine muslimische Frau heiraten und Kinder aus Mischehen werden als Muslime registriert (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht (März 2020), S. 12; The Danish Immigration Service, a.a.O.). Die Gesellschaft steht Konvertiten insgesamt feindlich gegenüber, eine öffentliche Konversion kann zum Ausschluss aus der Gemeinschaft und je nach Radikalität der Verwandtschaft auch zum Tod führen. Insoweit ist es kein Widerspruch, dass Christen selbst nicht der Verfolgung unterliegen (vgl. The Danish Immigration Service, a.a.O.; vgl. auch VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 - 6 A 612/17 -, juris). Denn es wird davon ausgegangen, dass man in seine Religion hineingeboren wird und diese bis zu seinem Tod beibehält.

23 Das Gericht ist insoweit nicht der Ansicht, dass der Kläger, der nicht mehr über nähere Verwandte verfügt, erst "austesten" muss, ob die verbliebene Sippe die Konversion duldet oder nicht. Er muss auch nicht substantiiert dazu vortragen, dass er bei Rückkehr von der Gesellschaft oder einem Stamm verfolgt wird. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wegen seiner Konversion kann dennoch im vorliegenden Einzelfall angenommen werden. Denn den o.g. Erkenntnismitteln lässt sich entnehmen, dass viele Konvertiten die Angaben zur Religion gerade nicht machen, weil sie die Reaktion der anderen, und auch jene der Gesellschaft fürchten. Es ist somit mit erheblichen Konsequenzen zu rechnen. Ein solches Verhalten ist dem Kläger indes nicht zumutbar. Nach den Auskünften ist es zudem so, dass wer seine Religion wechseln möchte, auch in der Autonomen Region Kurdistan nicht nur mit bürokratischen Hindernissen zu rechnen hat, sondern auch mit lebensgefährlichen Konsequenzen. Dies mag dann nicht so problematisch sein, wenn eine Person, ihren Glauben dezent ausübt oder, wie oben erwähnt, gar nicht erst mitteilt. Indes ist dies dem Kläger vorliegend nicht zumutbar. Der Kläger hat bereits in Deutschland andere Personen zu christlichen Gottesdiensten eingeladen, er ist ersichtlich von der christlichen Religion erfüllt und hat auch hier bereits Gefahren wegen seiner Glaubensüberzeugung auf sich genommen. Daher ist ein Gebiet, in dem in weiten Teilen die Überzeugung herrscht, dass Konvertiten den Tod verdient haben, kein Ort, an dem der Kläger mit seiner offenen und zutiefst überzeugten Art von der Richtigkeit des christlichen Glaubens, wird überleben können. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass der Kläger, weil sein Glauben nichts anderes zulässt, sich auch im Irak einer christlichen Kirche anschließen wird und auch andere hierzu einladen wird. Sein Glauben wird öffentlich werden. Dies wird ihn exponieren und in einem zunehmend konservativen gesellschaftlichen Klima, erheblichen Gefahren aussetzen. Insoweit sei bspw. darauf hingewiesen, dass teilweise auch davon ausgegangen wird, dass bereits die (nachhaltige) Tätigkeit bei einem Christen oder Yeziden im Alkoholverkauf zur Verfolgung führt (vgl. VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019, 6 A 4916/17, Rn 33 ff; Auswärtiges Amt, Lagebericht (März 2020), S. 17).

24 Zudem ist zu bedenken, dass gemäß § 3 a Abs. 2 Nr. 2 AsylG als Verfolgung unter anderem auch gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen gelten, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Art und Weise angewandt werden. Dabei muss die Maßnahme für sich genommen oder mit anderen Maßnahmen eine gewisse Intensität erreichen, um als flüchtlingsrelevant angenommen zu werden. Da die Religionsfreiheit eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft ist und ein grundlegendes Menschenrecht ist, kann auch nicht erwartet werden, dass jemand seinen Glauben still ausübt (vgl. EuGH, Urteil vom 05.09.2012 – C-71/11, C-99/11, juris). Insoweit ist vorliegend festzustellen, dass der Kläger auch im Übrigen erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt sein wird, die insbesondere aus der Art der Registrierung der Religion folgen. Er wird erhebliche Schwierigkeiten haben, eine Familie zu gründen und zugleich seine Religion auszuüben. Kein Muslim wird seine Tochter mit ihm verheiraten und auch Christen werden zögern, weil er als Muslim gilt. Etwaige Kinder werden als Muslime gelten, denn dies richtet sich nach dem Vater und dieser wird die islamische Religion offiziell nicht beseitigen können. Auch dies stellt eine Verfolgung dar, die die Flüchtlingseigenschaft neben der bereits erwähnten Verfolgung begründet. [...]