VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.06.2021 - 11 S 19/21 - asyl.net: M29844
https://www.asyl.net/rsdb/m29844
Leitsatz:

Ausweisungsinteresse auch bei Verhalten außerhalb der Tatbestände des § 54 AufenthG:

"Das Ausweisungsinteresse, dessen Bestehen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich ausschließt, liegt in der Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG, die vom Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ausgeht. Diese Gefahr kann auch durch ein Verhalten begründet werden, das keinen der Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt, wie das Unterstützen von Personen und Personenvereinigungen, die zur Verfolgung religiöser Ziele zu Gewalt oder Hass gegen Teile der Bevölkerung aufrufen."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisungsinteresse, Aufenthaltserlaubnis, Ermessen, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Unterstützung, terroristische Vereinigung,
Normen: AufenthG § 54, AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

(1) Das Ausweisungsinteresse, dessen Bestehen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich ausschließt, liegt in der Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG, die vom Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ausgeht ((a)). Diese Gefahr kann auch durch ein Verhalten begründet werden, das keinen der Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt, wie das Unterstützen von Personen und Personenvereinigungen, die zur Verfolgung religiöser Ziele zu Gewalt oder Hass gegen Teile der Bevölkerung auf-rufen ((b)).

(a) Auch im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht das Ausweisungsinteresse in der vom Aufenthalt des Ausländers ausgehenden Gefahr. Ausweislich des Wortlauts des § 54 Abs. 1 und 2 AufenthG setzt die Anwendbarkeit einer der dort normierten Tatbestände materiell voraus, dass das "Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1" vorliegt, das in jener Vorschrift lediglich konkretisiert und gewichtet wird (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.11.2020 - 11 S 2637/20 -, juris Rn. 42).

Daraus folgt zum einen, dass ein Ausweisungsinteresse als der Titelerteilung entgegenstehend nur dann vorliegt, wenn der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt tatsächlich gefährdet. Eine darauf bezogene Gefahrenprognose ist daher grundsätzlich auch dann erforderlich, wenn ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten des Ausländers einen der Tatbestände des § 54 AufenthG erfüllt (VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 08.06.2021 - 11 S 3759/20 -, juris Rn. 8, und vom 18.11.2020 - 11 S 2637/20 - , juris Rn. 42; a. A. möglicherweise VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.12.2020 - 12 S 2065/20 -, juris Rn. 14 ff.).

Zum anderen folgt daraus, dass ein Ausweisungsinteresse nicht voraussetzt, dass der Ausländer einen der in § 54 AufenthG normierten Tatbestände bereits verwirklicht hat, indem er etwa wegen einer Straftat nach Maßgabe des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verurteilt worden ist. Entscheidend ist, ob zum Entscheidungszeitpunkt eine relevante Gefahr vorliegt. Hat der Ausländer einen dieser Tatbestände dagegen bereits verwirklicht, kann eine spezialpräventive Gefahrenprognose maßgeblich auf diese Tatsache gestützt werden, wenn die Umstände des Einzelfalls eine Wiederholung nahelegen, wie dies etwa bei der mehrfachen Begehung von Straftaten, bei Straftaten aufgrund einer Suchtmittelerkrankung oder bei besonderen persönlichen Veranlagungen der Fall sein kann (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 08.06.2021 - 11 S 3759/20 -, juris Rn. 9 f., und vom 02.03.2020 - 11 S 2293/18 -, juris Rn. 14 f.).

(b) § 54 AufenthG nennt die Umstände, die ein Ausweisungsinteresse begründen können, nicht abschließend. Ein Ausweisungsinteresse als Gefährdung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch bestehen, wenn keiner der in § 54 AufenthG normierten Tatbestände erfüllt ist (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49; BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 21 und 24; Hess, VGH, Beschluss vom 15.02.2016 - 3 A 1482/14.Z -, juris Rn. 13; Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 29. Ed., 01.04.2021, § 53 AufenthG Rn. 4). Für die Feststellung eines Ausweisungsinteresses gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG sowie mit Blick auf die in § 54 AufenthG vorgenommene Typisierung und Gewichtung kann dabei von Bedeutung sein, ob das jeweilige Verhalten des Ausländers im Einzelfall einem der Tatbestände des § 54 AufenthG nahekommt.

Die Schutzgüter des § 53 Abs. 1 AufenthG der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der sonstigen erheblichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland überschneiden sich teilweise. Die Tatbestandsmerkmale der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts zu verstehen (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49; BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 23). Die freiheitliche demokratische Grundordnung erfasst die zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind, wie die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG; vgl. BVerfG, Urteil vom 17.01.2017 - 2 BvB 1/13 -, juris Rn. 535 ff.).

Vor diesem Hintergrund kann eine Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG vorliegen, wenn zur Erreichung religiöser Ziele zu Hass und Gewalt auf einzelne Bevölkerungsgruppen oder auch unterschiedslos aufgerufen wird. Dergleichen Verhaltensweisen werden teilweise von § 54 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 AufenthG erfasst und können Strafvorschriften und damit die öffentliche Sicherheit verletzen. Die Ablehnung staatlicher Normen zugunsten religiöser Gebote sowie die Herabwürdigung etwa von Frauen oder von Menschen, die sich aus Sicht der Anhänger extremistisch-religiöser Ideologien nicht an dergleichen Gebote halten, gefährdet regelmäßig die freiheitliche demokratische Grundordnung.

Eine Gefahr kann auch dadurch entstehen, dass der Ausländer Personen oder Personenvereinigungen unterstützt, die selbst die Schutzgüter des § 53 Abs. 1 AufenthG gefährden. Die Unterstützung anderer als gefahrbegründendes Verhalten ist in den Fällen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausdrücklich als mögliches Ausweisungsinteresse normiert. Dies ist aber auch in anderen Konstellationen denkbar. Ein Unterstützen einer terroristischen Vereinigung im Sinne dieser Vorschrift erfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts alle Verhaltensweisen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeit der Vereinigung auswirken (BVerwG, Urteil vom 22.02.2017 - 1 C 3.16 -, juris Rn. 31). Inwiefern diese Definition auf andere Fälle des § 53 Abs. 1 AufenthG zu übertragen ist, bedarf weiterer Klärung, muss hier aber nicht entschieden werden. [...]